Oradour-sur-Glane Präsident Gauck besucht Dorf der Märtyrer

ORADOUR-SUR-GLANE · Man muss es gesehen haben, um es zu glauben: Oradour-sur-Glane. Das Dorf, in dem die SS am 10. Juni 1944 die gesamte Bevölkerung ermordete, exekutierte, hinballerte. Nur sechs Menschen gelang die Flucht. Fast 70 Jahre nach dem Massaker der SS besucht Bundespräsident Joachim Gauck den Ort.

Joachim Gauck hatte noch am Vortag gesagt, er sei froh, ja er freue sich, den Gang in dieses Dorf jetzt tun zu dürfen. Fast 70 Jahre später. Es ist ein Gang, den er nie vergessen wird, den niemand vergessen wird, der ihn mitgegangen ist. Ruinen, wohin das Auge schaut. Rostende Autos und Geschäftsschilder. Ein Dorf als Mahnmal. Nichts ist hier verändert, nur einiges konserviert worden.

Die Menschen von Oradour-sur-Glane leben seit einigen Jahrzehnten auf einem Nachbarhügel. Im neuen Dorf. Sie hatten alle Verwandten verloren, 181 Männer, 254 Frauen, 207 Kinder - und sie haben dann auch noch den Glauben an die Gerechtigkeit verloren. Denn unter den Mördern der Waffen-SS waren auch Elsässer, Zwangsrekrutierte, wie die meisten später sagten. Ihnen wurde in den 50er Jahren der Prozess gemacht, doch sie wurden per Amnestiegesetz umgehend begnadigt. Für Oradour war das die zweite Katastrophe. Das Dorf brach mit dem Staat.

Robert Hébras, einer der sechs Überlebenden, der sich seit Jahrzehnten der Erinnerungsarbeit stellt, sagt: "Vor 50 oder 60 Jahren hätte ich nicht gedacht, dass ein deutscher Präsident nach Oradour kommen kann. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Vorher wäre es zu früh gewesen."

[kein Linktext vorhanden]Jetzt also ist Joachim Gauck hier. Als erster Bundespolitiker von hohem Rang. Gerhard Schröder hat 2004 bei den Gedenkfeiern zur alliierten Landung in der Normandie die barbarischen Taten in Oradour verurteilt, aber hier war er nicht. Es gibt Versöhnungswerke. Bayerische Abgeordnete tun sich da hervor, eine Partnerschaft zwischen Dachau und Oradour ist im Entstehen, die Aktion Sühnezeichen veranstaltet Sommercamps.

Aber jetzt ist der deutsche Bundespräsident da. In der brütenden Hitze dieses Spätsommertages kommt er, begleitet von Frankreichs Präsident François Hollande, Oradours Bürgermeister Raymond Frugier und Robert Hébras die menschenleere Dorfstraße hinauf, verharrt kurz in der Kirche und lässt sich von Hébras berichten, was hier Barbarisches geschehen ist. "Es ist jedes Mal schmerzhaft, wenn ich hier bin", sagt Hébras. "Ich sehe die Gesichter, immer wieder", die Gesichter der Menschen, die um ihn herum ermordet wurden.

"Warum Oradour?", will der Bundespräsident wissen. Aber darauf gibt es auch an diesem Nachmittag keine Antwort. Es gab keine Résistance in Oradour, es war pure Willkür. Von Nazis. Gaucks Eltern, auch das gehört zur geschichtlichen Wahrheit, waren Mitglied der NSDAP. Später auf dem Friedhof legen Gauck und Hollande ein großes weiß-rosa-gelbes Rosenbouquet nieder. Der Bundespräsident kondoliert Angehörigen von Opfern, spricht besonders lange mit einer jungen Frau in Trauerkleidung und trägt sich in das Goldene Buch von Oradour ein, es ist ein Kondolenzbuch: "Mit Entsetzen, Erschütterung und Abscheu stand ich vor dem, was hier unter deutschem Kommando geschehen ist", schreibt er. Und: "Ich darf heute Zeugnis ablegen dafür, dass es ein anderes, friedliches und solidarisches Deutschland gibt. So soll es bleiben."

Gauck ist sichtlich gerührt, man meint, Tränen in seinen Augen zu sehen. Plötzlich zieht er François Hollande an sich, umarmt ihn fest und herzlich, drückt ihn, nimmt Robert Hébras hinzu, verharrt sekundenlang Stirn an Stirn mit diesem alten Mann. Erinnerungen an den Händedruck zwischen Helmut Kohl und François Mitterrand über den Gräbern von Verdun im September 1984 werden wach.

In seiner Rede sagt Gauck anschließend: "Ihre Einladung ist eine Geste des Willkommens, des guten Willens, ja eine Geste der Versöhnung. Eine Geste, die man nicht erbitten, die man nur geschenkt bekommen kann." Und er bekennt: "Wir werden Oradour und die anderen europäischen Orte des Grauens und der Barbarei nicht vergessen. Ich denke an das Limousin, Tulle, Lidice, an Sant´Anna di Stazzema, an Kalavrita. Orte erschreckender, brutaler Gewaltverbrechen."

Und während er das sagt, steht neben ihm François Hollande, der französische Präsident, der bis 2008 Bürgermeister im benachbarten Tulle war. Dort waren Hitlers Schergen einen Tag früher eingerückt, hatten 99 Bürger an Straßenlaternen und Balkonen erhängt - aus Rache für angebliche Partisanen, von denen es jedenfalls in Oradour keine gab.

Joachim Gauck verschweigt auch nicht, dass er die juristische Aufarbeitung dieser Barbarei für wenig gelungen hält. "Nur widerwillig und schleppend hat der Rechtsstaat seinerzeit begonnen, die großen Gewaltverbrechen aus der Zeit des Nationalsozialismus zu behandeln. Das passt zu der Tatsache, dass in unserer deutschen Gesellschaft nach dem Krieg zunächst Schuld vielfach verdrängt und verharmlost worden ist." Und er sagt: "Ich teile Ihre Bitterkeit darüber, dass Mörder nicht zur Rechenschaft gezogen wurden, dass schwerste Verbrechen ungesühnt blieben. Sie ist meine Bitterkeit." Noch immer wird ermittelt, Robert Hébras war vor Jahren schon Prozesszeuge.

Es müsse wie ein Wunder wirken, sagt Gauck, dass Deutschland und Frankreich angesichts derartiger deutscher Barbarei den Weg in eine gemeinsame freundschaftliche Zukunft gefunden hätten. "Aber es war kein Wunder, es war Menschenwerk." Deutschland sei jetzt "ein gutes Land" geworden, eben das neue, das andere Deutschland.

François Hollande bleibt auch an diesem Nachmittag bei seinem Thema, wenn auch unausgesprochen. Er spricht von Massakern, die man nicht hinnehmen dürfe. Meint damit natürlich Oradour, aber eben auch Syrien.

Als beide Staatsmänner geendet haben, nehmen sie den alten Bürgermeister von Oradour links und rechts unter den Arm, stützen ihn den Weg vom Podium herunter. Unten wird aus der geplanten kurzen Begegnung mit den Angehörigen der Opfer eine geschlagene Dreiviertelstunde. Das Protokoll ist gesprengt. Und dem Präsidenten ist das an diesem Tag genau Recht.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort