Interview Russischer Regierungschef Medwedew wirbt für Frieden

Luxemburg · Der russische Regierungschef Dmitri Medwedew war zu Gesprächen zu Besuch in Luxemburg. Im Interview äußert er sich über eine neue Generation russischer Atomraketen, Gaslieferungen und den veränderten Blick seiner Landsleute auf Europa.

 „Wir wollen niemanden angreifen“, sagt Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew - hier gemeinsam mit Wladimir Putin (l.).

„Wir wollen niemanden angreifen“, sagt Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew - hier gemeinsam mit Wladimir Putin (l.).

Foto: AFP

Herr Medwedew, müssen wir befürchten, dass die neuen russischen Hyperschallraketen in unseren Vorgärten landen?

Dmitri Medwedew: Unsere Hyperschallraketen sind sehr genau und zuverlässig, Ihren Vorgärten droht also nichts. Aber im Ernst, wir bedrohen niemanden und wollen erst recht niemanden angreifen oder bekriegen. Jeder Versuch atomarer Erpressung führt unserer Meinung nach zur Verschärfung der internationalen Lage. Wir sind daran interessiert, dass in Europa Frieden und Stabilität herrschen. Alle werden sich ruhiger fühlen, wenn sämtliche amerikanischen Atomwaffen in die USA zurückkehren, wenn die Infrastruktur in Europa, die es ermöglicht, diese Waffen instand zu halten und schnell in Stellung zu bringen, beseitigt wird. Das gilt auch für die Übungen, die regelmäßig in den Nato-Ländern stattfinden. Das schafft nichts außer überflüssiger Unruhe, vor allem für die Nato-Länder selbst.

Aber uns beunruhigt auch Russland, wo jetzt ständig neue Atomwaffen präsentiert oder erprobt werden, mit 27 Mach Geschwindigkeit. Auch das wirkt nicht sehr friedliebend.

Medwedew: Die Geschwindigkeit einer Rakete ist eine technische Angabe, kein Indikator für Friedensliebe. Wir streben sicher danach, die modernsten und effektivsten Waffen zu haben. Aber, ich wiederhole es, nicht um anzugreifen. Wir besitzen, wenn Sie so wollen, eine genetische Abneigung gegen Krieg. Unser Nukleararsenal betrachten wir ausschließlich als Abschreckungsmittels, als Garantie für Russlands nationale Sicherheit.

In Europa wird jetzt auch das Pipelineprojekt Nord Stream 2 diskutiert. Seine Gegner sagen, man besitze schon ein Gastransportsystem durch die Ukraine, dazu werde der Bedarf an Erdgas in Europa in den nächsten Jahrzehnten eher sinken. Was sind Russlands Motive für Nord Stream 2?

Medwedew: Die Motive liegen auf der Hand. Erstens ist es wirtschaftlich zweckmäßig und kommerziell sehr interessant, für alle Teilnehmer. Zweitens senkt es die Transitrisiken. Russland ist auf dem europäischen Gasmarkt schon einige Jahrzehnte aktiv. Und wir wollen sicher sein, dass wir auch weiterhin unsere Verpflichtungen vollständig erfüllen können. Deshalb schaffen wir einen zusätzlichen Transportkorridor für unsere Gaslieferungen. Ich betone, zusätzlich, nicht als Ersatz. Nord Stream 2 wird nur einen Teil des für Europa notwendigen Imports sicherstellen. Und das stabiler und billiger als die bestehenden Verbindungen. Davon profitieren die europäischen Verbraucher direkt.

Und braucht Europa Ihr Gas?

Medwedew: Wir gehen davon aus, dass Europa ein Großabnehmer des russischen Gases bleiben wird, trotz der dynamischen Entwicklung grüner Energien und des Flüssiggas-Segments. Auf jeden Fall solange Europa seine Entscheidungen nach ihrem ökonomischen Nutzen trifft. Und solange es keine wirklich sensationellen Durchbrüche in der Energietechnologie gibt. In den vergangenen Jahren wuchsen die russischen Gaslieferungen auf den europäischen Markt. Und die Perspektiven sind insgesamt nicht schlecht. Wegen einer ganzen Reihe von Gründen. Dazu gehören die sinkende Förderung in „alten“ Fördergebieten wie der Nordsee, der teilweise Verzicht auf Kohle, in einigen Ländern auch auf Atomenergie. Und natürlich wegen der Notwendigkeit, erneuerbare Energien „abzusichern“, die ökologisch attraktiv, aber energetisch noch nicht sehr sicher sind. Deshalb glaube ich, in absehbarer Zukunft wird das russische Gas einen wesentlichen Teil des Energiebedarfs der europäischen Länder decken.

Die deutsche Kanzlerin sagt oft, auch nach der Eröffnung von Nord Stream 2 müsse man den Transport russischen Gases durch die Ukraine erhalten. Was meinen Sie dazu?

Medwedew: In dieser Frage haben Frau Merkel und ich sehr ähnliche Meinungen. Aber Russland strebt eine Diversifizierung der Gastransportkanäle auf den europäischen Markt an. Je mehr Transportrouten es gibt, umso sicherer werden die Lieferungen. Ich unterstreiche ausdrücklich: Wir geben den Transport durch die bestehenden Rohrleitungen nicht auf. Weder Nord Stream 2 noch der „Türkische Stream“ sehen solche Entscheidungen zur Ukraine oder anderen Ländern vor. Insbesondere sind wir bereit, den Transit durch das ukrainische Gastransportsystem auch nach 2019 fortzusetzen. Natürlich unter Beachtung bestimmter Bedingungen. Auch darüber haben wir schon mehrfach geredet. Kurz gesagt, das sind eine Regulierung der Beziehungen zwischen den interessierten Unternehmen, wirtschaftlich lukrative Parameter des Geschäfts, sowie politische Stabilität.

In den vergangenen Jahren kritisiert man in Russland Europa und seine Sitten heftig, verneint auch oft, dass Russland ein Teil des kulturellen und politischen Europas ist. Ist Russland Ihrer Meinung nach ein europäisches Land?

Medwedew: Russland ist ein demokratisches Land, bei uns existieren verschiedene Ansichten über Europa und seine Werte, darunter auch kritische. Aber sie entstanden nicht im Verlauf der vergangenen Jahre, wie Sie sagen. Erinnern Sie sich an den Streit der Slawophilen und der Westler, den Mitte des 19. Jahrhunderts die führenden Köpfe Ihrer Zeit austrugen. Er setzt sich in unterschiedlichem Maße bis heute fort. Ohne Zweifel sind wir nicht von Europa zu trennen, von den politischen, wirtschaftlichen und zivilisatorischen Prozessen dort. Gleichzeitig ist Russland ein einmaliges Land, wegen unserer geografische Lage und des riesigen Gebiets, dessen wesentlicher Teil in Asien liegt. Wir haben gelernt, die orientalische Kultur zu verstehen, die uns bereichert hat und mehrere unserer Lebensbereiche wesentlich beeinflusst hat. Wir neigen nicht dazu, die westlichen und östlichen Ursprünge gegeneinander zu stellen, sondern betrachten sie als unseren Vorteil.

Jetzt aber ist ideologische Konfrontation in Russland Mainstream, so wie das Wort „Gayropa“ in den politischen TV-Talkshows. Auch offizielle Vertreter reden davon, dass in Europa postchristliche Werte herrschen, die grundsätzlich nicht mit den traditionellen Werten Russlands vereinbar sind.

Medwedew: Die Medien in allen Ländern spitzen Probleme zu, um Interesse zu erwecken. Aber es wäre sonderbar, ein Gleichheitszeichen zwischen den Zwischenrufen von Talkshow-Teilnehmern und der Position offizieller Vertreter zu setzen. Dann folgten jedem Wort vom TV-Bildschirm zehn diplomatische Proteste. Was das Wertesystem angeht, es bildet sich bei den Menschen in Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten. Und bestimmt nicht auf Befehl von oben oder auf Signale der Medien. Sicher, jeder Mensch kann seinen Weg und seine Vorlieben wählen. Es ist nicht zulässig, sich in persönliche, intime Fragen einzumischen. Aber wir werden auch nichts propagieren, was den Überzeugungen der meisten Leute in Russland widerspricht. In dieser Hinsicht hat Europa eine Geschichte, wir eine andere. Man muss fremde Traditionen achten, aber nicht anderen Staaten die eigenen Standards aufdrängen.

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