Kommentar zur Wahl in der Türkei Schwierige Zeiten

Meinung · Neue Richtungsentscheidungen wären fällig, doch ob Ankara nach der Wahl dazu fähig sein wird, ist unsicher, kommentiert Susanne Güsten.

 Tausende Menschen nehmen an einer Wahlkampfveranstaltung von Muharrem Ince, dem Präsidentschaftskandidaten der Oppositionspartei CHP, teil.

Tausende Menschen nehmen an einer Wahlkampfveranstaltung von Muharrem Ince, dem Präsidentschaftskandidaten der Oppositionspartei CHP, teil.

Foto: dpa

Unabhängig vom Ergebnis der türkischen Wahlen am Sonntag wird das Land auf Monate hinaus mit vielen Problemen beschäftigt sein. Auf der politischen Ebene steht möglicherweise ein Dauerstreit zwischen Präsident und Parlament an – mit der Möglichkeit abermaliger Neuwahlen in ein paar Monaten. Die Wirtschaft steht vor einer schweren Krise. In der Außenpolitik steckt das Land tief in regionalen Konflikten und entfernt sich von seinen traditionellen Partnern im Westen.

So hatte sich Präsident Erdogan das alles nicht vorgestellt. Als er die vorgezogenen Neuwahlen im April ankündigte, ging er von einem klaren Sieg aus, der ihm unter dem neuen Präsidialsystem ein leichtes Regieren ohne Widerstände ermöglichen werde. Doch die vergangenen zwei Monte haben gezeigt, dass viele Türken einen Wechsel wollen – und dass die lange Zeit völlig dysfunktionale Opposition durchaus Alternativen zu bieten hat. Deshalb wird die türkische Wahl diesmal so spannend wie schon lange nicht mehr.

Den Umfragen zufolge ist eine Machtteilung in Ankara das wahrscheinlichste Resultat: Erdogan bleibt zwar im Präsidentenpalast, doch im Parlament muss er mit starken Gegenkräften zurechtkommen. Eine solche Konstellation erfordert Kompromissbereitschaft, die nicht zu den Stärken des 64-jährigen Staatschefs zählt. Schon wird deshalb über erneute Wahlen noch vor Jahresende spekuliert, doch angesichts der Stimmung in der Bevölkerung wäre das ein hohes Risiko für Erdogan.

Politische Stabilität, das Hauptversprechen Erdogans mit Blick auf das Präsidialsystem, wird es also möglicherweise nicht geben. Dabei muss die Türkei dringend Reformen angehen, unter anderem in der Wirtschaft. Das Land hat sich bis jetzt auf Investoren verlassen, die ihr Geld aus Schwellenländern wie der Türkei abziehen. Erdogans Einmischung in die Arbeit der Zentralbank hat die Anleger zusätzlich verunsichert. Der drastische Kursverfall der Lira wirft die Frage auf, wie türkische Unternehmen ihre Schulden von insgesamt rund 200 Milliarden Dollar bezahlen sollen.

Schwierige Entscheidungen stehen auch in der Außenpolitik an. Die Türkei hat sich tief in den Syrien-Krieg verstrickt und zugleich Soldaten in den Irak entsandt, um dort gegen die kurdische Terrororganisation PKK vorzugehen. Eine strategische Sackgasse deutet sich an. Erdogans Vorstellung, die Türkei könne als eigenständige Kraft die Entwicklungen in Europa und im Nahen Osten beeinflussen, entspringt einem verzerrten Selbstbild, das den tatsächlichen Machtverhältnissen nicht entspricht: In Syrien etwa kann Ankara nicht ohne grünes Licht aus Moskau handeln. Gleichzeitig bricht Erdogan die Brücken zum Westen ab. In seiner neuen Regierung wird es laut Medienberichten kein EU-Ministerium mehr geben.

Neue Richtungsentscheidungen wären also fällig, doch ob Ankara nach der Wahl dazu fähig sein wird, ist unsicher.

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