Spielraum ohne Grenzen So lief Angela Merkels Besuch in China

Peking · Kanzlerin Angela Merkel wird in China wertgeschätzt. Im Hongkong-Konflikt legt sie dennoch den Finger in die Wunde. Auf die Frage nach einer Militäraktion schweigt Chinas Premier Li zunächst – eine Schrecksekunde.

Es ist eine freundliche Geste des chinesischen Ministerpräsidenten. Auf dem Platz an der Großen Halle des Volkes brennt die Sonne, es weht kaum ein Lüftchen. Li Keqiang wird gleich die Kanzlerin mit militärischen Ehren begrüßen. In ähnlichen Situationen in Berlin hatte Angela Merkel im Sommer am ganzen Körper zu zittern begonnen. Pragmatisch wie sie ist, lässt sie sich und ihrem Gast vor dem Kanzleramt seitdem einen Stuhl hinstellen – ehren kann man auch im Sitzen. Über politisches Stehvermögen sagt das nichts aus. Am Freitagmorgen in Peking stehen auch zwei Stühle, prunkvolle Möbel. Im Schatten. Die deutsche Nationalhymne wird gespielt und es werden Salutschüsse aus Kanonen abgefeuert. Merkel soll sich willkommen fühlen. Es ist ihr zwölfter Besuch in China. Sie ist vielleicht keine Freundin, aber eine Vertraute Pekings.

Sie und Li eint die Sorge über den Handelsstreit zwischen China und den USA. Peking setzt auf Europa, auf Deutschland. Die wirtschaftliche Zusammenarbeit könne noch viel enger werden, sagt Li. Eine Reihe von Vereinbarungen werden mit den Chefs der mitgereisten hochkarätigen Wirtschaftsdelegation unterschrieben. Li verspricht: „Die Zeit rennt, aber der Spielraum kennt keine Grenzen.“

Doch Besuche in Peking sind politische Gratwanderungen. Merkel klagt höflich, aber unverblümt, dass deutsche Bundestagsabgeordnete an der Einreise nach China gehindert wurden. Und sie dringt auf die Reaktivierung des gemeinsamen Menschenrechtsdialogs. Richtig heikel wird es aber erst beim Thema Hongkong.

Li gefällt es nicht, dass deutsche Journalisten in der Pressekonferenz nach dem Umgang Chinas mit der Sonderverwaltungszone Hongkong fragen, und wie Merkel darauf antwortet. Es gefällt ihm überhaupt nicht, wenn viele Journalisten da sind. Deshalb werden zunächst einige in Peking ansässige deutschen Berichterstatter ausgeschlossen – und dann doch wieder zugelassen. Die Lage ist angespannt.

„Wir haben natürlich auch ausführlich über das Thema Hongkong gesprochen. Es gilt der Grundsatz: Ein Land, zwei Systeme“, sagt Merkel. Seit der Rückgabe der früheren britischen Kronkolonie wird Hongkong nach diesem Grundsatz autonom mit einem eigenen Grundgesetz unter chinesischer Souveränität regiert. Merkel betont, die chinesisch-britische Erklärung von 1984 regele die Rechte und die Freiheiten der sieben Millionen Hongkonger, die seit Monaten gegen den zunehmenden Einfluss Pekings protestieren und über wirtschaftliche und soziale Probleme klagen.

Merkel erklärt: „Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Rechte und Freiheiten natürlich auch gewährleistet werden müssen.“ Das Abkommen gelte weiter. „In der jetzigen Situation muss alles daran gesetzt werden, Gewalt zu vermeiden.“ Es gebe Anzeichen, dass Hongkongs Regierungschefin zu einem solchen Dialog einladen wolle. Es sei zu hoffen, dass die Demonstranten an diesem Dialog teilnehmen können.

Li Keqiang, der danach gefragt wird, ob China militärisch eingreifen wird, schweigt. Er antwortet einfach nicht. Merkel ist irritiert. Schrecksekunde. Denn wenn Li dazu gar nichts sagt, könnte auch der Interpretationsspielraum keine Grenzen kennen: Doch eine Militäraktion gegen Demonstranten? Schnell wird eine chinesische Journalistin mit einer Frage nach den guten bilateralen Beziehungen aufgerufen. Li beschwört diese Formel: „China öffnet sich.“ Für Märkte, für Deutschland, für andere Ansichten. Er betont: „Aus freien Stücken.“ Immer wieder spricht er vom Multilateralismus, was man vor Donald Trump stets vom US-Präsidenten gehört hatte.

Das "Chaos" beenden

Und dann sagt Li doch etwas zu Hongkong. Erstmals in einem derartigen öffentlichen Austausch. Er wolle das „Chaos“ beenden. „Das wird im Rahmen der Gesetze geschehen“, versichert der Premier. China habe „die Weisheit“ dazu. Was das genau bedeutet, bleibt unklar, es wirkt aber weniger bedrohlich als ein Schweigen.

Dieser Besuch von Merkel in Peking gehört zu den sorgenvollsten ihrer Kanzlerschaft. Die alte Weltordnung bröckelt merklich. Der von Trump losgetretene Handelsstreit mit China, der zu immer höheren gegenseitige Strafzöllen führt, bedroht die Weltwirtschaft. Auch ausländische Zulieferfirmen leiden – und die deutsche Autoindustrie, die in den USA produziert und nach China exportiert. Merkel sagt: „Wir merken alle, selbst wenn wir daran nicht beteiligt sind, dass sich das auf unsere Beziehungen auswirkt.“

Zu ihren großen außenpolitischen Zielen in ihrer Restzeit als Kanzlerin gehört noch der Abschluss eines EU-China-Investitionsschutzabkommens. Darüber wird seit 2013 verhandelt. Im zweiten Halbjahr 2020 will Merkel das unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft unter Dach und Fach bringen. Merkel weiß, wie sehr die Wirtschaft auf sie als Fürsprecherin dafür setzt, dass deutsche Unternehmen in China einen besseren Marktzugang bekommen – ohne Angst vor geistigem Diebstahl und einseitigem Technologietransfer zu haben.

Umgekehrt beklagt China jetzt, dass zwar die deutschen Investitionen in China gestiegen, aber die chinesischen in Deutschland gesunken sind. Von deutscher Abschottung ist die Rede. Diplomaten in Berlin weisen das zurück. Es gebe aber „strategische Bereiche“, bei denen sich Fragen stellten, wo und warum China investieren wolle. Kurzum: Es geht um solch sensible Angelegenheiten wie den chinesischen Wunsch, seinen Netzwerkausrüster Huawei in Deutschland am Ausbau des 5G-Netzes zu beteiligen – und um deutsche Sorgen vor Spionage.

Wie sehr die chinesische Führung Merkel schätzt, ist am Besuchsprogramm abzulesen. Neben Li empfängt auch Staatspräsident Xi Jinping den Gast aus Deutschland, auch wenn Merkels internationaler Einfluss schwindet, weil die Chemie mit Trump nicht stimmt und sie kein richtiges Bindeglied mehr zu den USA ist. Li sagt, China sei „bereit zu lernen“. Etwa beim Klimaschutz. Schritt für Schritt. Rom sei auch nicht an einem Tag erbaut worden. Ganz Merkels Devise. Für die Wirtschaft, aber auch für die Menschenrechte.