Neue Niederlage für Erdogan Türkische Richter kritisieren Inhaftierung von Yücel

Istanbul · Die Verfassungsrichter werfen den Behörden die Verletzung der Grundrechte von Deniz Yücel vor. Der kritisierte mit scharfen Worten jene türkischen Politiker, die er für seine Inhaftierung verantwortlich macht.

Für Recep Tayyip Erdogan war alles klar: „Der ist ein Agent und Terrorist.“ Als der türkische Staatspräsident vor zwei Jahren über den damals inhaftierten deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel sprach, klang er wie ein Ankläger vor Gericht. Yücel saß ein Jahr in Untersuchungshaft und wurde schließlich auf Druck der Bundesregierung entlassen, bevor sein Prozess begann. Jetzt stellte das türkische Verfassungsgericht fest, die Behörden hätten mit der Inhaftierung die Grundrechte Yücels verletzt: eine neue Niederlage für Erdogan. Die Verfassungsrichter stärkten mit ihrem Urteil die lädierte Pressefreiheit in der Türkei.

Yücels Anwalt Veysel Ok sieht das Urteil der Verfassungsrichter als Grundsatzentscheidung, die auch für andere inhaftierte Journalisten in der Türkei die Hoffnung auf Freiheit wecke. Die Richter hätten klargestellt, dass Journalisten wegen ihrer Texte oder Beiträge nicht in Haft genommen werden dürften, sagte Ok unserer Zeitung in Istanbul. Kritik an der Politik der Regierung sei nach dem Urteil von der Meinungsfreiheit gedeckt. „Jetzt müssten weitere Journalisten freikommen“, sagte der Jurist, der selbst wegen angeblicher Beleidigung der Justiz vor Gericht steht. So lange er im Amt sei, werde Yücel nicht aus dem Gefängnis freikommen, sagte Erdogan im Jahr 2017 in einem Fernsehinterview. Es gebe Videomaterial, das eine enge Verbindung zwischen Yücel und der kurdischen Terrororganisation PKK belege.

Prozess wird in Abwesenheit geführt

Was den Präsidenten und die Staatsanwaltschaft besonders aufregte, war ein Interview, das Yücel für die „Welt“ mit dem PKK-Kommandanten Cemil Bayik geführt hatte. Das Gespräch war einer der Gründe dafür, dass Yücel 2017 wegen des Vorwurfs der Terrorpropaganda in Untersuchungshaft genommen wurde. Der Prozess gegen den Journalisten in Istanbul begann trotz seiner Freilassung ein Jahr später und wird in Yücels Abwesenheit geführt.

Noch aus der Haft heraus hatte sich Yücel an das türkische Verfassungsgericht gewandt. Jetzt kam das Urteil: Die Richter zerreißen darin die Argumente der Anklage – und damit indirekt auch die von Erdogan – in der Luft. Die Tatsache, dass ein Journalist ein Interview mit einem Terroristen wie Bayik führe, sei kein Beweis für Terrorunterstützung und Volksverhetzung, urteilten sie. Ein Strafvorwurf müsse mit konkreten Beweisen begründet werden. Das sei bei Yücel nicht der Fall gewesen. Andere Texte Yücels enthielten zwar Kritik, doch diese bleibe im Rahmen der Pressefreiheit, stellten die Richter weiter fest. Ein Journalist dürfe nicht lediglich aufgrund seiner veröffentlichten Texte in Haft genommen werden. Das Gericht wirft den Behörden vor, mit der Untersuchungshaft die Grundrechte Yücels verletzt zu haben. Yücel begrüßte die Entscheidung, bedauerte aber, dass sie so lange auf sich warten ließ: „Mit diesem Urteil widerfährt mir keine Gerechtigkeit“, schrieb er auf Twitter. „Späte Gerechtigkeit ist keine.“ Das ihm zugesprochene Schmerzensgeld von umgerechnet 3800 Euro will er an Journalistenverbände und eine Stiftung spenden, die nach einem Opfer der Erdogan-kritischen Gezi-Unruhen von 2013 benannt ist.

Mit scharfen Worten kritisierte Yücel jene türkischen Politiker, die er für seine Inhaftierung verantwortlich macht: Neben Erdogan sind das Außenminister Mevlüt Cavusoglu und Bekir Bozdag, der zur Zeit seiner Verhaftung türkischer Justizminister war. Diese seien nun laut einem höchstrichterlichen Urteil als „Lügner, Verleumder und Kidnapper“ anzusehen. Erdogan sei der „Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung”.

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