Grubenunglück bei Izmir Türkische Tragödie

ISTANBUL · Sami Kilic hat die Katastrophe mit eigenen Augen gesehen. "Die Überlebenschancen sind weniger als Null", sagt der türkische Bergarbeiter an diesem Mittwochmorgen vor der Kohlegrube im westtürkischen Soma.

Nach offiziellen Angaben sind zu diesem Zeitpunkt rund 200 Todesopfer geborgen worden, mehrere hundert Bergarbeiter konnten gerettet werden.

Doch Kilic, der an den Rettungsarbeiten tief unter Tage teilgenommen hat und jetzt mit rußverschmiertem Gesicht unter seinem gelben Bergarbeiterhelm vor der Kamera eines türkischen Fernsehsenders steht, sieht noch kein Ende des vielleicht schlimmsten Bergwerkunglücks der türkischen Geschichte: "300, 350 oder 400 Arbeiter sind da unten noch eingeschlossen", sagt er.

Während Kilic spricht, marschieren auf den Straßen mehrerer türkischer Städte Demonstranten, um gegen die Regierung zu protestieren. "Das war kein Unfall, das war ein Verbrechen", steht auf Schildern, die Studenten der Arel-Uni bei Istanbul neben zwei Arbeitshelmen und einigen Nelken aufgestellt haben. In Ankara liefern sich Studenten wieder Straßenschlachten mit der Polizei.

Am Tag nach der Explosion eines Trafos im Soma-Bergwerk rund 400 Meter unter Tage bleiben die Ausmaße des Grubenunglücks lange unklar. Der aus Ankara herbei geeilte Energieminister Taner Yildiz räumt ein, dass mit einer steigenden Zahl der Opfer zu rechnen sei. "Unsere Hoffnungen sinken", sagt der Minister. Ankara ruft eine dreitägige Staatstrauer aus.

Das Feuer in dem Trafo ließ in dem Bergwerk den Strom ausfallen - Aufzüge und Frischluftversorgung funktionierten nicht mehr. Der Zufall wollte es, dass sich das Unglück beim Schichtwechsel ereignete, als fast 800 Beschäftigte in der Grube waren.

Bergarbeiter Kilic hat kaum noch Hoffnung für seine Kollegen. In den Schächten sei es eng und heiß, berichtet er, beißender Rauch mache das Atmen schwer. Fernsehsender berichten, das Kühlhaus, in dem die Leichen gesammelt werden, sei voll, weil inzwischen schon 300 Todesopfer dorthin gebracht worden seien - also weit mehr als offiziell zugegeben.

Die Religionsbehörden rufen aus den angrenzenden Landkreisen 80 muslimische Geistliche zum Sondereinsatz, um die vielen anstehenden Beisetzungen bewältigen zu können. Im Internet kursieren Fotos von Lastwagen mit hastig aufgeladenen Särgen. Wie konnte das nur geschehen?, fragt die ganze Türkei an diesem Tag.

Das Land hat in den vergangenen zehn Jahren einen Atem beraubenden Wirtschaftsaufschwung erlebt, das Bruttoinlandsprodukt hat sich verdreifacht, Millionen von Türken können sich zum ersten Mal in ihrem Leben ein Auto oder eine neue Wohnung leisten.

Doch der Boom lief auf dem Rücken vieler Beschäftigter ab, die unter teils lebensgefährlichen Bedingungen schuften mussten und müssen. Das gilt vor allem für Zweige wie die Bauindustrie, den Schiffbau und eben den Kohlebergbau. Allein in der Grube in Soma sollen seit September 2012 bei mehreren kleineren Unfällen insgesamt 22 Bergleute ums Leben gekommen sein - jedes Mal waren Brände unter Tage die Ursache.

"Das täglich? Brot liegt im Rachen des Löwen", sagt ein türkisches Sprichwort. Nach Erkenntnissen der Organisation "Eine Hoffnung", die Berichte über Arbeitsunfälle sammelt, sterben in der Türkei jeden Tag drei bis vier Arbeiter bei einem Unfall. Im vergangenen Jahr zählte der Verband insgesamt 1235 Tote.

Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung aus dem Jahr 2008 ist es um die Sicherheit in türkischen Bergwerken noch schlimmer bestellt als in China: Demnach ist in China pro Million Tonnen geförderter Kohle ein Todesopfer zu beklagen - in der Türkei sind es sieben.

Insbesondere unter Studenten und jungen Akademikern in der Türkei wächst seit einiger Zeit der Unmut gegen die Missachtung jeglicher Arbeiterrechte beim rasanten Wirtschaftswachstum. Nach dem Unglück von Soma ist spürbar, dass der Geist der Gezi-Proteste des vergangenen Jahres und der Ärger über Erdogans Regierung erneut aufflammen.

Mehrere Organisationen rufen zu Protesten gegen die Regierung auf, Schüler und Studenten treten in einen Streik. Auch vor dem Istanbuler Verwaltungsgebäude des Bergbaubetreibers gibt es an diesem Mittwoch Proteste. "Mörder" haben Aktivisten schon in der Nacht mit blutroter Farbe auf die weiße Wand des Bürogebäudes im Istanbuler Banken- und Geschäftsviertel Levent gesprüht.

Unglücke wie das in Soma sind keine Zufälle, sagen Opposition und Gewerkschaften. Sie werfen der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan unter anderem vor, diese habe bei der Privatisierung von Bergbauunternehmen und anderswo nicht auf die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen geachtet.

Ob er denn trotz des Unglücks von Soma weiter im Bergbau arbeiten wolle, wird ein Überlebender vor der Grube im Fernsehen gefragt. "Na klar", sagt der Mann. "Andere Jobs gibt's hier doch nicht."

Verschlimmert wird die Lage durch eine "Wird schon nichts passieren"-Haltung in Ankara: Erst Ende April brachte die Oppositionspartei CHP im Parlament einen Antrag auf Untersuchung der Missstände in Soma ein. Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab.

Der Wirtschaftswissenschaftler Aziz Celik bringt die Vorwürfe der Regierungsgegner auf den Punkt: Das Unglück von Soma sei ein "Massaker an den Arbeitern."

Am frühen Nachmittag trifft Erdogan in Soma ein. Mit versteinerter Miene geht er mit seinem Tross und umringt von Polizisten und Soldaten zum Eingang der Grube. Zu diesem Zeitpunkt liegt die offizielle Anzahl der Opfer bei 238. Oppositionspolitiker sprechen von bis zu 350 Toten, denn 120 Kumpel sind da noch unter Tage eingeschlossen.

Bei einer Pressekonferenz spricht Erdogan von einem "sehr großen Schmerz", würdigt die Arbeiter, die "im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen" und lobt die Rettungsteams, die schnell vor Ort gewesen seien. Seine Regierung werde herausfinden, was genau geschehen sei, verspricht er. Selbst für die respektvolle Haltung der Opposition hat er ein gutes Wort.

Doch Demut ist Erdogans Sache nicht. Auf kritische Fragen von Journalisten rattert der 60-Jährige hohe Opferzahlen bei Grubenunfällen in anderen Ländern herunter, um das Unglück zu relativieren. Unter anderem verweist er auf Unglücke in England des 19. Jahrhunderts. "Es gibt kein Bergwerk ohne Unfall. So etwas kommt vor." In einer anschließenden Rede äußert er sich ähnlich.

Das geht den Angehörigen der Bergleute in Soma denn doch zu weit. Als Erdogan die Stadt verlässt, wird sein Fahrzeugkonvoi von einer wütenden Menge mit Tritten traktiert. "Ministerpräsident tritt zurück", skandieren die Menschen. Die Polizei nimmt mehrere Demonstranten fest.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort