Kommentar Überraschende Wende im Fall Nawalny - Aber das Urteil bleibt gültig

MOSKAU/KIROW · Alexej Nawalny fällt seiner Frau Julia um den Hals und lässt sie minutenlang nicht los. "Unverzüglich" seien Nawalny und Pjotr Ofizerow, die noch am Vortag zu fünf und vier Jahren Lagerhaft Verurteilten, aus dem Gerichtssaal freizulassen, hatte der Richter im Lenin-Bezirksgericht von Kirow, einer Provinzstadt 900 Kilometer östlich von Moskau entfernt, gerade ausgesprochen.

Unverzüglich öffnet sich die Tür des Glaskäfigs, in den die Beamten den Kreml-Kritiker und seinen Freund geführt hatten. Eine neue Anklage hatte der 37-jährige Volljurist da noch vermutet. Hatte es in seiner Isolationskammer gar nicht mitbekommen, dass am Abend zuvor etwas Entscheidendes passiert war, etwas Außergewöhnliches im Land.

Russlands Generalstaatsanwalt hatte ein Machtwort gesprochen: "Ich glaube, dass das Urteil in Hinsicht auf die Änderungen der vorbeugenden Maßnahmen illegal war", schrieb er und sorgte damit für eine "einmalige Situation", wie es gleich mehrere Anwälte in Moskau nennen.

Unter "vorbeugende Maßnahmen" verstehen die Russen die Verpflichtung, seinen Wohnort nicht zu verlassen. Nawalny musste sich dieser Plicht noch vor dem Urteil unterwerfen, er habe diese Maßnahme nicht verletzt, sei in Moskau registriert. Somit sei er - eben unter den Reiseeinschränkungen - wieder freizulassen, entschieden gestern auch die drei Richter nach einer einstündigen Besprechung hinter verschlossenen Türen. Den Schuldspruch selbst stellt das Gericht nicht infrage.

Frei ist der Antikorruptionsblogger somit nur vorerst. Noch ist nicht klar, welchen Schritt Regierung und Justiz als Nächstes tun. Denn dass der Generalstaatsanwalt das Urteil eines Bezirksgerichts "anficht" und die Verurteilten nach einer kurzen Sitzung am Tag danach die Handschellen wieder abgenommen bekommen, spricht dafür, wie verwoben die staatlichen Gewalten in Russland sind. Es weist darauf hin, welche Kämpfe zwischen den Hardlinern und den liberaler eingestellten Lagern ausgetragen werden.

Sind es die Menschen, die nach dem Urteilsspruch in mehreren Städten Russlands zu Tausenden spontan auf die Straße gingen? Die sich haben festnehmen lassen, nicht aufhörend, "Freiheit für Nawalny!" zu rufen? Hatten die Mächtigen vor dieser aufgebrachten Menge Angst?

Oder sorgte sich der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin um die "volle Legitimation" der Bürgermeisterwahlen am 8. September, zu der auch Nawalny als Kandidat zugelassen ist? Sobjanin, ein Politiker von Putins Gnaden, ist so fest in seinem Machtsattel, dass er die Abstimmung klar gewinnen dürfte. Der angedachte Zweikampf mit Nawalny sollte den Wahlen einen Hauch von Demokratie verleihen.

Ohne den 37-Jährigen wäre die Wahl gänzlich zur Farce verkommen. Das schien wohl plötzlich auch Sobjanin klar. Der Staat aber hat Nawalny und seine Anhänger lediglich beruhigt. Zu jeder Zeit kann sich die Situation ändern. "Sind wir in einem Monat wieder hier?", habe seine Frau ihn bei der Umarmung gefragt, erzählte Nawalny in Kirow. Für ihn geht der Kampf in Moskau weiter.

"Vor Erleichterung geseufzt, jetzt ran an die Arbeit. Infostände, Flyer, Agitation", twitterte er direkt nach der Freilassung. "Ich bin kein Schoßhündchen der Regierung", sagte er noch vor dem Glaskäfig. Dass der Staat ihn jedoch an der Leine hält, dürfte auch dem Oppositionellen bewusst sein.

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