Demografie in NRW "Umkehren können wir das nicht“

Herscheid · Die Rheinstädte boomen, die Dörfer verlieren Einwohner. NRW verändert sich, wird bunter und älter. Der demografische Wandel vollzieht sich in rasantem Tempo. Wo Einwohnerzahlen schrumpfen, ringen Bürgermeister um Lösungen. Besuch im südwestfälischen Herscheid.

 Uwe Schmalenbach ist Bürgermeister in Herscheid. FOTO: J. FISCHER

Uwe Schmalenbach ist Bürgermeister in Herscheid. FOTO: J. FISCHER

Foto: Jasmin Fischer

Staus: keine. Hinter Rheinland und Ruhrgebiet geht es zügig über freie Autobahnen Richtung Sauerland. Wer Bürgermeister Uwe Schmalenbach besuchen will, muss kein Nümmerchen ziehen, um ihn zu sehen. Die Wartezeiten anderer Bürgerbüros sind hier unbekannt. Schmalenbach hört das gern. Die Provinz hat viele Vorteile. Doch die Überschaubarkeit ist auch ihre größte Gefahr: Selbst im bevölkerungsreichen NRW braucht es große Kraftanstrengungen, kleine Orte am Leben zu halten.

Keine Region schrumpft so stark wie Südwestfalen. Werdohl, Herscheids Nachbarort, hat seit 2003 laut Statistikern bereits jeden zehnten Einwohner verloren, Altena, zwei Ortschaften weiter, ist von 30 000 Bürgern im Jahr 1970 auf 18 000 geschrumpft – Negativrekord in Westdeutschland. Die Lage ist so angespannt, dass Altenas charismatischer und gewitzter Bürgermeister Andreas Hollstein 100 Flüchtlinge mehr aufnimmt, als der Königsteiner Schlüssel vorsieht. Die irakischen Christen ziehen 2017 aus Essen in den Ort. „Wir haben Leerstand hier, den wir nutzen wollen. Wenn wir mehr Menschen Obdach geben, hoffen wir, dass viele auf Dauer hier bleiben, eine berufliche Zukunft finden und dass wir sie integrieren können“, begründet er die Entscheidung.

Schmalenbach, eher der Typ unerschrocken analysierender Faktenmensch, hat sein Herscheid schon als Kämmerer vermessen. Er setzt weniger auf Schlagzeilen denn auf langfristige, mühsame Planung. 6,5 Prozent der Bürger hat Herscheid seit 2003 verloren. Ohne Flüchtlinge zählt der Ort 7167 Einwohner. „Unter 7000 dürfen wir nicht fallen“ , räumt der Bürgermeister unumwunden ein. Unternehmen, die 6,5 Prozent ihrer Kunden verlieren, fahren die Produktion runter. „Ich kann aber Straßen- oder Abwassernetz nicht um 6,5 Prozent reduzieren“, sagt er. Schmalenbach ist nicht der Einzige mit diesen Überlegungen. Bis 2030 geht die Bevölkerungszahl in NRW um 5,3 Prozent auf 16,91 Millionen zurück – eine noch ungünstigere Entwicklung als der Bundesschnitt (-3,7 Prozent).

Fast alle Kommunen außer den Rheinstädten sind betroffen, massiv die Ruhrgebietsmetropolen. Doch Schrumpfung in Städten hat andere Konsequenzen als in kleinen Landgemeinden, wo die Folgen unmittelbarer zu spüren sind. So ist eine der zwei Grundschulen in Herscheid von drei auf zwei Klassenzüge heruntergegangen, weil Schüler fehlen. Wie in ganz NRW werden auch die Herscheider nicht nur weniger, sondern älter. Also hat Stadtchef Schmalenbach im Rathaus eine Stelle für eine Mitarbeiterin geschaffen, die sich um altersgerechte Quartiersentwicklung kümmert. Im Ortszentrum entstehen barrierefreie Wohnungen. „Die Wege sollen kurz bleiben“, betont er. Heißt in einem Ort, in dem man ohnehin zu Fuß zur Arbeit gehen könnte: Ärzte, Bäckerei und Restaurants müssen mitten in der Mitte sein. Eine 12 000 Quadratmeter große Brache neben dem Rathaus ist dieses Jahr mit Landeshilfe zu einer „Dorfwiese“ umfunktioniert worden. Vision war ein generationenübergreifendes Miteinander auf dem Platz.

Kooperation mit Nachbarorten für ein Demenznetzwerk, eine Telefonkette für ältere Singles, neue Baugebiete, um Familien anzulocken: Schmalenbach macht Druck, dass der demografische Faktor in alle Planungsbereiche einbezogen wird. „Der Wandel ist ja weder Segen noch Fluch“, findet er, „man muss ihn nicht fürchten, sondern ihn leben und darauf reagieren.“

Zarte Erfolge kann er bereits verbuchen. Nachdem der Ort über viele Jahre in allen Altersgruppen Einwohner durch Wegzug verloren hat, lassen sich in der Gruppe der 30- bis 50-Jährigen wieder mehr Auswärtige nieder. Sie kommen: aus den Nachbarstädten. „Natürlich stehen wir mit anderen Ort in Konkurrenz um Zuzügler“, sagt Schmalenbach. Sie bekommen Baugrundstücke für 120 Euro den Quadratmeter, er bekommt: Arbeitskräfte, Steuerzahler, Paare im besten Alter mit Kindern, die Kita und Schule mit Leben füllen und in den Ferien – Serviceidee vom Bürgermeister – zeitlich koordinierte Betreuungsangebote nutzen.

Ob das aber reicht? Der Anteil der Über 80-Jährigen in Herscheid verdoppelt sich bis 2030, die gerade Volljährigen kehren dem Ortstyp „kleine Kleinstadt“ NRW-weit den Rücken – trotz der „nur“ 42 Minuten ins Dortmunder Westfalenstadion, wie Schmalenbach betont. Seit der Jahrtausendwende überragt der rote Balken der Todesfälle die Geburten, teils ums das Doppelte. „Umkehren können wir das nicht“, sagt er. Jedes Neugeborene aber erhält vom Standesamt ein Badetuch. Darauf steht, wie zur Beschwörung: „Herscheid – ein Ort zum Bleiben“.

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