Kardinal Rainer Maria Woelki im Interview "Unser Platz ist an der Seite der Armen"
BERLIN · Seit August 2011 ist der gebürtige Kölner Rainer Maria Woelki Erzbischof in Berlin. Der 55-Jährige, der zwischen 1997 und 2003 das Collegium Albertinum in Bonn leitete, spricht im Interview über Christentum und Politik, den Islam und Ostern.
Herr Kardinal, Sie sind in Köln in dem Ruf weggegangen, ein besonders konservativer Geistlicher zu sein und haben im atheistischen Berlin in wenigen Wochen ein sehr positives Echo erfahren. Wie erklären Sie das?
Woelki: Ich kann mit diesen Zuordnungen - konservativ, liberal, progressiv - grundsätzlich nichts anfangen. Ich habe mich in Köln darum bemüht, ich bemühe mich hier in Berlin darum, einfach der zu sein, der ich bin. Ich bin also in Köln kein anderer gewesen als jetzt in Berlin.
Berlin ist aber ein völlig anderes Pflaster als Köln oder Regensburg. Nur ein Drittel der Bevölkerung gehört einer der großen christlichen Kirchen an. Verliert sich Glaube in den Metropolen, ist der Islam auf dem Siegeszug?
Woelki: Wir Christen sind in Berlin knapp 30 Prozent. Mehr als 60 Prozent bezeichnen sich als konfessionslos. Knapp acht Prozent gehören dem Islam an; neben vielen anderen Religionen und Bekenntnissen gibt es auch eine lebendige jüdische Gemeinde. Ich erlebe Berlin als eine Stadt, in der sehr viele Menschen auf der Suche sind. Nach Sinn, nach Orientierung, nach Halt. Da fragen sie auch bei den Religionen nach, gerade auch junge Menschen. Wir werden hier zu Ostern weit über 100 Erwachsenentaufen haben. Wir sind mit dem, was wir zu sagen haben, durchaus attraktiv.
Nochmal: Bereitet Ihnen das Ausbreiten des Islam Sorge?
Woelki: Was heißt Sorge? Deutschland ist zu einem Einwanderungsland geworden. Wir leben in einem modernen Rechtsstaat, der gottseidank Religionsfreiheit garantiert. Also sollen alle, die hier leben, im Rahmen der Verfassung und der Gesetze ihren Glauben leben und praktizieren. Insofern bereitet mir die Ausbreitung des Islam keine Sorgen.
Keine zehn Prozent sind katholisch. Fühlen Sie sich manchmal als Missionar?
Woelki: Christsein heißt immer Missionar sein. Insofern bin ich Missionar: Ich will den Menschen von Jesus Christus erzählen.
Keine Sorge um das Christentum?
Woelki: Wenn wir uns dazu bekennen: nein. Es ist doch auffällig und merkwürdig, dass wir über das Fußballspiel oder den Opernbesuch reden, aber uns scheuen, unseren Glauben ins Wort zu bringen. Ich würde mir schon mehr Mut wünschen, dass wir uns zu unserem Glauben eindeutiger bekennen.
Ein evangelischer Pastor ist jetzt Bundespräsident, die Tochter eines evangelischen Pastors Bundeskanzlerin. Verliert die katholische Kirche an Einfluss auf die Politik?
Woelki: Ich würde in der Politik weniger nach katholisch und evangelisch unterscheiden. Entscheidend ist, dass wir Politiker haben, die aus einer christlichen Grundhaltung handeln. Da ist das Konfessionelle weniger entscheidend, es ist das christliche Bild vom Menschen, das uns verbindet.
Haben wir denn diese christliche Grundausrichtung?
Woelki: Sicher wünschte ich mir, was diese ethischen Fragen angeht - Fragen der Präimplantationsdiagnostik, Fragen des menschlichen Lebens - manches Mal andere Entscheidungen und einen sehr viel stärkeren Schutz des menschlichen Lebens. Aber wir haben in allen Parteien eine Vielzahl von Politikern, die sich aus ihrem christlichen Glauben heraus engagieren.
Ist für Sie die familiäre Situation des neuen Bundespräsidenten ein öffentlich zu diskutierendes Thema?
Woelki: Als katholische Christen stehen wir ein für das Ideal der sakramentalen Ehe. Aber der Herr Bundespräsident muss für sich selbst entscheiden, wie er sein privates Leben gestaltet.
Der Papstbesuch hat nur vage Signale in Richtung Ökumene und damit evangelische Kirche gegeben. Müssen die beiden Kirchen nicht viel stärker aufeinander zugehen?
Woelki: Ich glaube, dass wir das gerade hier in Berlin tun. Im Übrigen hat der Papstbesuch nicht nur vage Signale gegeben. Der Heilige Vater ist eigens nach Erfurt gekommen, hat dort die Begegnung mit den evangelischen Christen gesucht. Hat Luthers Wort vom gnädigen Gott aufgegriffen, ist an den Ort gegangen, wo Luther vor der Reformation gelebt hat. Das waren wichtige Zeichen und deutliche Signale. Im Vorfeld gab es allerdings übertriebene Erwartungen, die der Papst gar nicht erfüllen konnte.
Was wäre Ziel von Ökumene?
Woelki: Angesichts einer zunehmenden Säkularisierung muss es darum gehen, das gemeinsame christliche Zeugnis zu verstärken - und das geben wir bereits jetzt in vielen Bereichen.
In Berlin erleben Sie wie in kaum einer anderen Stadt Armut. Sie haben Ihre Kardinalerhebung mit armen Berlinern in einer Suppenküche gefeiert. Muss die Rolle der Kirche hier wachsen, wenn der Staat manche Hilfe nicht mehr leisten kann?
Woelki: Wo Menschen in Not sind, darf die Kirche nicht fehlen. Unser Platz hat immer an der Seite der Armen zu sein. An der Seite der Menschen, die in Bedrängnis sind. Es braucht aber auch christliche Politiker, die darauf achten, dass die Verantwortung des Staates hier nicht zu kurz kommt. Auch die Schwachen müssen einen Platz in unserer Gesellschaft haben. Es muss Verteilungsgerechtigkeit geben. Die wirtschaftlich Starken müssen mit dazu beitragen, dass es in unserer Gesellschaft soziale Gerechtigkeit gibt.
Gibt es sie?
Woelki: Nein, die Schere geht weiter auseinander. Insbesondere hier in Berlin ist das feststellbar, etwa wenn wir daran denken, dass ein großer Teil der hier lebenden Kinder inzwischen staatliche Hilfsleistungen bekommt. Das kann auf Zukunft so nicht sein. Wir brauchen eine finanzielle Umschichtung, so dass wir gerade am Anfang in Lebensbedingungen investieren, Stichwort: Bildung und Bildungsgerechtigkeit. Auch arme Eltern wollen gute Eltern sein. Es darf sich hier kein soziales Prekariat heranbilden, einfach weil am Anfang schon die Chancen fehlen.
Millionen Menschen im Niedriglohnsektor steht nach Ende des Berufslebens Armut im Alter bevor. Braucht Deutschland einen gesetzlichen Mindestlohn?
Woelki: Ich bin überzeugt, dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn brauchen. Arbeitsverträge müssen so geschrieben sein, dass jeder Arbeitnehmer in Deutschland von seiner Hände Arbeit auch menschenwürdig leben kann. Und das natürlich auch im Alter. Das ist ein Gebot von sozialer Vernunft und christlicher Nächstenliebe.
Die Zahl der Demenzkranken nimmt permanent zu. Die jüngste Pflegereform hat Kritiker aus allen Lagern auf den Plan gerufen. Zu zaghaft, zu knapp, zu unentschlossen, lautet die Kritik. Was muss passieren?
Woelki: Die Zukunft der Pflege wird eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft sein. Wir sind eine Solidargemeinschaft. Die Väter des Grundgesetzes haben unser Gemeinwesen um einen solidarischen Kern herum angelegt. Wir können Menschen, die älter und krank werden, nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Natürlich ist es am Ende auch eine Frage des Geldes. Immer weniger Jüngere müssen für die Solidarität mit immer mehr Älteren aufkommen und diese auch bezahlen. Wie das sozial gerecht verteilt wird, ist Aufgabe von Politik.
50 Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Welche Fenster muss die Kirche neu öffnen?
Woelki: Das Fenster zu Gott, zu Christus. Es ist der Gottesbezug, der vielen Menschen verloren gegangen ist. Dieses Fenster müssen wir neu aufstoßen.
Das Motto des bevorstehenden Katholikentages in Mannheim lautet: Einen neuen Aufbruch wagen. Aufbruch wohin?
Woelki: Wir müssen zurück zum Kern des Glaubens. Aufbruch also zu den Quellen. Unsere Aufgabe ist es, aus dem Geist des Evangeliums und aus dem Geist Jesu, Kirche und Gesellschaft zu gestalten.
Angesichts des dramatischen Priestermangels: Sollen auch Laien Gemeinden übernehmen dürfen?
Woelki: Leitung in der Kirche wird ausgeübt durch Jesus Christus selbst. Dort, wo er sich selbst gibt, als Brot, ist Leitung in der Kirche immer mit dem Priesteramt verbunden. So kann Gemeinde oder Pfarrei schlussendlich immer nur von einem Priester geleitet werden. Aber natürlich gibt es darüber hinaus viele Möglichkeiten, wie auch Laien an der Leitung partizipieren und dort, wo kein Priester Dienst tut, Gemeindeleben koordinieren und Menschen zum Gebet zusammenrufen.
Ist es für die katholische Kirche an der Zeit, das Priesteramt für Frauen zu öffnen?
Woelki: Dazu hat Johannes Paul II. alles gesagt. Und dem schließe ich mich an.
Also keine Frauen fürs Priesteramt?
Woelki: So ist es.
Wäre ein gelockerter Zölibat ein Mittel gegen Priestermangel?
Woelki: Das glaube ich nicht. Wir brauchen in der Kirche beide: Verheiratete, die in der sakramentalen Ehe leben. Und auch ehelos Lebende, die sich in Freiheit für das Zölibat entschieden haben, und bereit sind, ihr Leben der Freundschaft zu Gott voll und ganz zu widmen.
Welche Lektion hat die katholische Kirche aus der Missbrauchsdebatte gezogen?
Woelki: Die katholische Kirche ist mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle immer noch nicht zu Ende. Sie ist aber gleichzeitig die Institution, die sich dieser Aufarbeitung am intensivsten widmet und dazu die klarsten Regeln aufgestellt hat. Mit eigenen Präventionsordnungen in den Diözesen, mit der Ernennung eigener Missbrauchsbeauftragter und mit Maßnahmen zur Weiterbildung. Seelsorger arbeiten da mit Ärzten und Psychologen zusammen. Wir sind auf gutem Weg, ohne dass wir uns jetzt zurücklehnen könnten.
Sie sind mit 55 Jahren der weltweit jüngste Kardinal. Wer wird Nachfolger von Kardinal Meisner in Köln?
Woelki: Das weiß gegenwärtig nur der liebe Gott und es besteht kein Grund zur Eile. Kardinal Meisner hat uns zum eucharistischen Kongress 2013 nach Köln eingeladen, und im Dezember 2013 wird er 80 Jahre alt. Ich denke, dass er bis dahin wie auch bisher treu seinen Dienst tun wird.
Ostern steht für die Auferstehung Jesu. Gibt es dazu eine Botschaft der Bibel, aus der die Politik lernen könnte?
Woelki: Als der auferstandene Christus den Jüngern begegnet, ob in Emmaus oder am See Genezareth, bricht er mit ihnen das Brot, so dass alle davon leben können. Wenn Sie so wollen, steht dies für eine Form von Verteilungsgerechtigkeit, für die wir alle arbeiten müssen.