Türkei „Verpass ihnen einen Kopfschuss“

Istanbul · Morddrohungen im Internet und Schlägereien im Parlament: Der Kurdenkonflikt vergiftet das innenpolitische Klima in der Türkei.

 Zerrissenes Land: Demonstranten protestieren in Istanbul gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK.

Zerrissenes Land: Demonstranten protestieren in Istanbul gegen die Kurdische Arbeiterpartei PKK.

Foto: dpa

Die Sitzung des Verfassungsausschusses im türkischen Parlament hatte noch nicht einmal richtig angefangen, als sie auch schon wieder vorbei war: Vor laufenden Kameras gingen Politiker der Regierungspartei AKP und der Kurdenpartei HDP aufeinander los. Fäuste flogen, Stühle krachten, Frauen schrien, ein Abgeordneter sprang auf den Sitzungstisch. „Es ist nicht zu fassen“, kommentierte eine Moderatorin im Fernsehen angesichts der Bilder vom Donnerstagabend. Selbst die Türkei, die Raufereien unter Abgeordneten gewöhnt sei, habe eine solche Gewalt noch nie gesehen, berichteten die Zeitungen.

Die wüste Schlägerei im Ausschuss war der zweite solche Zwischenfall innerhalb von 24 Stunden. Schon am Mittwoch hatten sich AKP- und HDP-Vertreter im Plenum gerauft, Beschimpfungen wie „Terrorist“ und „Mörder“ hallten durch den Saal. Anlass war der Vorwurf eines HDP-Redners, türkische Sicherheitskräfte hätten Massaker an kurdischen Zivilisten verübt.

Angesichts der Spannungen in der Volksvertretung zog das Parlamentspräsidium die Notbremse. Das Parlament wurde bis zum kommenden Montag geschlossen, um den Gemütern Zeit zur Abkühlung zu geben. Der Zeitplan der Regierung für die Verabschiedung von Gesetzen zur Umsetzung der geplanten Visa-Freiheit bei Reisen in die EU gerät ins Stolpern.

Parlamentarische Zeitpläne sind noch das kleinste Problem. Die Gewalt im Hohen Haus zeigt, wie sehr der neu aufgeflammte Kurdenkonflikt das gesellschaftliche und politische Klima im Land vergiftet hat. Noch vor einem Jahr redeten Regierung und HDP über eine endgültige Friedenslösung für das Kurdenproblem. Inzwischen sprechen längst wieder die Waffen – und die Stimmung zwischen Türken und Kurden wird feindselig.

In der Türkei berichten die Fernsehsender fast jeden Tag über den Tod von Soldaten im Kampf gegen die Kurdenrebellen von der PKK. Am Freitag gab der Generalstab bekannt, zwei weitere Soldaten seien ihren im Gefecht erlittenen Verletzungen erlegen. Aus der Kurdenmetropole Diyarbakir wurde ein neuer Anschlag mutmaßlicher kurdischer Extremisten gemeldet.

Insgesamt sind mehr als 400 Soldaten, Polizisten und regierungstreue Milizionäre seit dem Neubeginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen im vergangenen Sommer getötet worden; kurdische Extremisten töteten mehr als 60 Menschen bei Terroranschlägen in Ankara.

Im Kurdengebiet starben laut HDP-Angaben seit dem Sommer fast 700 Zivilisten bei Gefechten. Die Zahl der getöteten PKK-Kämpfer wird von der Armee rund 4000 angegeben.

Auch wenn die Angaben der verfeindeten Seiten nicht immer nachprüfbar sind, lassen die Zahlen erahnen, wie viel Leid über Familien in der ganzen Türkei hereingebrochen ist. Dieses Leid schürt den Hass. Im westanatolischen Usak wurden nach Berichten kurdischer Medien jetzt zwei Bauarbeiter niedergestochen, weil sie auf der Straße Kurdisch sprachen. Beide liegen mit lebensgefährlichen Verletzungen im Krankenhaus, doch die mutmaßlichen Täter seien auf freien Fuß gesetzt worden, hieß es in den Berichten.

Die deutschstämmige Kurdenpolitikerin Feleknas Uca protestierte bei der Regierung gegen ein rechtsextremes Rap-Video, das in der bei den Kämpfen zerstörten Altstadt von Diyarbakir gefilmt wurde. In dem Clip hetzt der bewaffnete und vermummte Rapper gegen Christen und Kurden. Die Lösung für den Kurdenkonflikt sei einfach, heißt es in dem Lied: „Wenn sie sich nicht ändern, verpass‘ ihnen einen Kopfschuss.“

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