Kommentar zu den Aussichten für Europa Weichenstellungen

Meinung · 2019 wird für Europa kein Routinejahr. Schon im ersten Halbjahr stehen mit dem Brexit am 29. März und der Europawahl Ende Mai richtungsweisende Daten im Kalender.

 Der scheidende EU-Verwaltungschef Jean-Claude Juncker kritisiert die Handlungsschwäche der Union.

Der scheidende EU-Verwaltungschef Jean-Claude Juncker kritisiert die Handlungsschwäche der Union.

Foto: dpa

Die Sichtweise, dass der Brexit nur Verlierer kenne, erscheint zu eindimensional. Wie die Briten aus der Scheidung von Europa etwas Positives machen wollen, ist zwar tatsächlich schwer erkennbar. Ein vertragsloser Brexit, mittlerweile nicht mehr auszuschließen, wird diesseits und jenseits des Kanals zu chaotischen Zuständen führen.

Aber mehr jenseits, wie die Krisenvorbereitungen zeigen – vom Armeeeinsatz über Notfallpläne für die Medikamenten- und Lebensmittelversorgung bis zur ungeklärten irisch-nordirischen Grenzfrage. Die Brexit-Befürworter haben die Dimension des Vorhabens nicht durchdrungen. Die Bindungskräfte der Union haben sie nur vom hohen Ross ihrer antieuropäischen Vorurteile gesehen.

Wie stabil diese Kräfte sind, hat neben den Brüssel-Gegnern selbst viele EU-Freunde überrascht. Von einem „Italexit“ oder einem „Öxit“ ist, anders als vor einem Jahr, jedenfalls nicht mehr die Rede. Das Vereinigte Königreich liegt in der Brexit-Frage im Krieg mit sich selbst. Europa dagegen hat sich bemerkenswert einig gezeigt und könnte deshalb aus der ganzen Tragödie mit einem blauen Auge hervorgehen.

Der scheidende EU-Verwaltungschef Jean-Claude Juncker legt mit seinem Rundumschlag gegen heuchlerische Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten allerdings den Finger in eine offene Wunde: die Handlungsschwäche der Union. Juncker hat nichts mehr zu verlieren und kann deshalb offen reden. Dass selbst bei einer Frage höchster Priorität wie dem Schutz der Außengrenzen die EU-Staaten nicht bereit sind, die zuständige EU-Behörde Frontex auf überschaubare 10.000 Mitarbeiter aufzustocken, ist blamabel und exemplarisch auch für andere Bereiche.

Der Fall Frontex liefert zudem den Rechtspopulisten argumentative Gratismunition für den Europawahlkampf. AfD, Front National oder Lega Nord werden diese Steilvorlage schadenfroh verwandeln – wie man Ängste der Bürger vor Überfremdung und Zuwanderung in politische Stimmungen und damit in Stimmen umsetzt, darin haben die Weidels, Le Pens und Salvinis Erfahrung.

Egal, ob und wie die EU die zwei absehbaren Großkrisen – Brexit-Chaos und mögliche Wahlerfolge der Rechtspopulisten – bewältigt: Als weltpolitischer Machtfaktor wird ein vor allem mit sich selbst beschäftigtes Europa nach wie vor keine Rolle spielen. Selbst die unmittelbare Nachbarschaft wie die Ukraine oder der Nahe Osten bleibt das Spielfeld von Russen und Amerikanern, von Iranern, Saudis und Türken. Die EU: wirtschaftlich ein Riese, politisch ein Zwerg.

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