Ruhrgebiet Windwalze bringt Tod und Zerstörung

MÜLHEIM · 20 000 Blitzeinschläge, Starkregen und Sturm mit Windgeschwindigkeiten von mehr als 120 Stundenkilometern über dem Ruhrgebiet. In manchen Städten ging am Dienstag überhaupt nichts.

 Dramatische Bilder: Gewitterwolken ziehen am Montag über den Ort Sörmeke bei Geseke.

Dramatische Bilder: Gewitterwolken ziehen am Montag über den Ort Sörmeke bei Geseke.

Foto: dpa

Um 12 Uhr brennt die Sonne schon wieder aus wolkenlosem Blau herunter, Wiedergutmach-Wetter, das hier, am Rande der Mülheimer Altstadt, allerdings niemanden zum Narren halten kann. Schon gar nicht Eckhard Lohsin. Wo er am Pfingstmontag den VW seiner Frau geparkt hat, liegt nun hinter Flatterband eine Trümmerlandschaft. Beindicke Äste bohren sich durch den Wagen, die Windschutzscheibe ist zerborsten, der Türholm verbogen, wo das Dach war, gähnt ein Loch im Blech. "Jetzt ham'wa 'n Sportwagen", ruft er seiner Frau zu, verzweifelt entschlossen, an der Bordsteinkante, wo Nachbarn und Neugierige die Schreckensbotschaften der Nacht handeln, ja keine Trübsal aufkommen zu lassen.

Es würde auch nicht passen an diesem Dienstagmorgen, an dem das Ruhrgebiet nach dem verheerenden Gewittersturm anpackt und aufräumt. Da werden wie Spielzeug durch die Straßen gewehte Mülltonnen wieder aufgerichtet, Äste zur Seite gezogen, Kellerböden getrocknet. Das energische Fegen eines Kehrbesens, das ist die Tonspur des Reviers in diesen Stunden nach dem Orkan.

Mit 124 Stundenkilometern war der Wind etwa über Castrop-Rauxel gewalzt, ähnlich viel wurde in Düsseldorf und Essen gemessen. 40 Liter Regen sind vielerorts zwischen Dortmund und Duisburg in weniger als einer Stunde niedergegangen, 20 000 Blitzeinschläge haben die Wetterdienste aufgezeichnet.

Dass die Tropenhitze am Pfingstmontag ein so brachiales Ende nehmen würde, hatte trotz Unwetterwarnung kaum jemand erwartet - im Gegenteil. Als gegen 19.30 Uhr der erste Wind aufkommt, sorgt er in vielen, vielen Gärten, in denen im Ruhrgebiet am Abend gegrillt wird, gar für Aufatmen. Nur halbherzig werden Gläser, Sitzkissen und Sonnenschirme beim ersten leichten Regen eingeholt. Da verfärbt der Himmel sich schon staubblau, später violett. Ein Naturspektakel, das nun vom Schönen ins Schaurige kippen wird.

[kein Linktext vorhanden]Binnen weniger Momente verstummt jedes Vogelgezwitscher, fast geräuschlos drückt eine Windwalze aus der Luft auf die Bäume. Erste Laubkronen brechen knarzend ab. Tannen beugen sich im Wind, dann trommeln Donnergrollen und Starkregen aufs Revier. In Recklinghausen stürzt ein eilig evakuiertes Schützenfest-Zelt ein, im Essener Süden bricht bei einem Open-Air-Konzert wegen umherwirbelnder Trümmer Panik aus. Jugendliche strömen auf die überfüllten Bahnsteige des S-Bahnhofes Essen-Werden, retten sich über Absperrgitter vor dem dichten Gedränge. 20 Verletzte gibt es allein hier. In Düsseldorf sterben zwei Männer (56 und 53 Jahre alt) und eine Frau (52) ausgerechnet in einer Gartenlaube, in der sie Schutz vor dem Gewitter gesucht hatten. Das Häuschen war von einer umstürzenden Pappel getroffen worden. In Essen-Kray kollabiert und stirbt ein Mann bei den Aufräumarbeiten.

Eckhard Lohsin aus Mülheim indes hatte Glück im Unglück: "Wir hatten gerade geparkt, waren ins Haus gegangen, da stürzte der Ast aufs Auto." Bohrte sich wie ein Pfahl durch die Fahrerkabine. Schon abends hat er sich die Sache im strömenden Regen beguckt - und befunden, dass er im Grunde nicht klagen sollte. "Es waren Polizisten hier, die schon tagsüber bei der Gedenkfeier gegen Rechts in Köln im Einsatz waren", sagt er, "die wussten gar nicht, ob sie nach ihrer Doppelschicht noch nach Hause kommen würden. Sie hatten ihre Autos in Wuppertal geparkt, im Schatten unter Bäumen."

[kein Linktext vorhanden]Schon kurz nach Sonnenaufgang ist klar, dass die Schäden im Ruhrgebiet immens sind: Allein für Duisburg schätzt die Feuerwehr die Kosten auf 1,2 Millionen Euro. Das ist nur der Anfang, denn die Erkundungsteams der Rettungskräfte kommen nur langsam voran. Wie nach einem Terrorangriff ordnen sie die Schreckensbilder nach Priorität. Die Liste wächst und wächst: Das Essener Nobelviertel Bredeney meldet abgeknickte Laternenmasten. Im Dortmunder Zoo ist ein Panda seinem beschädigten Gehege entwischt. Mülheim schließt wegen herabstürzender Äste seine Friedhöfe und bestattet dort diese Woche keine Toten mehr, ähnlich will auch Düsseldorf verfahren. In Bochum, Essen, Mülheim, Herne, Castrop-Rauxel und Gelsenkirchen bleiben die Schulen heute noch geschlossen, zu groß ist das Chaos. Bis die Gesamtbilanz der Verwüstung steht, werden noch Tage vergehen. "Wir müssen damit rechnen, dass der Schaden insgesamt auf einen zweistelligen Millionenbetrag hinausläuft", so NRW-Innenminister Ralf Jäger. Und: "Das war eines der schwersten Unwetter der letzten 20 Jahre in NRW."

Am Tag danach gerät für Tausende Pendler der morgendliche Weg zur Arbeit zum Albtraum. Über 150 zermalmte Bäume blockieren die Ruhrgebietsautobahnen A40 und A52 bis in den späten Dienstagabend. Der Verkehr auf den Ausfallstraßen staut sich nach WDR-Informationen auf insgesamt 300 Kilometer Länge. In vielen Bahnhöfen fährt kein einziger Zug aus oder ein. Im Ort Wetter, wo Bahngäste in Richtung Dortmund starten sollen, gibt der Zugführer die Durchsage aus: "Ich kann Ihnen nicht versprechen, wo wir ankommen, aber wir geben unser Bestes."

Kristoff Gött, der von Mülheim zu seinem Arbeitsplatz bei einer Essener Personalmarketing-Agentur in der Regel 15 Minuten mit U- oder S-Bahn pendelt, kapituliert morgens um 7.15 Uhr: "Selbst der kurze Weg war nicht zu schaffen." Für Taxis beträgt die Wartezeit, etwa in Dortmund, vier Stunden. Der Chef hat ihn schließlich über Schleichwege mit dem Auto abgeholt - eine Slalomfahrt.

Eckhard Lohsin wartet derweil auf die Feuerwehr, die den Baum von seinem Wagen heben soll. Das kann dauern: "600 Bäume müssen in Mülheim geräumt werden und die Durchfahrtsstraßen sind zuerst dran." Frau Lohsin hat in der Zwischenzeit schon mal den Fensterputzer bestellt. Und Herr Lohsin erzählt noch einmal, wie das Autoradio in dem Autowrack mitten im Regen begonnen hat zu spielen. Dann greift auch er zum Besen.

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