Bildungsforscherin Allmendinger "Wir brauchen mehr Zeit und Ganztagsschulen"

BONN · Im Kindergarten sind sie noch alle zusammen, erlernen gemeinsam Kompetenzen, entwickeln soziale Strukturen, doch schon in der Grundschule werden sie oft getrennt, durch die Empfehlung für die weiterführenden Schulen dann komplett auseinandergerissen: Kinder werden nach Ansicht von Jutta Allmendinger viel zu häufig, viel zu früh und vor allem viel zu extrem gesiebt und eingeordnet.

 Bei der Bonner Fachtagung "Bildung & Begabung": die Berliner Professorin Jutta Allmendinger.

Bei der Bonner Fachtagung "Bildung & Begabung": die Berliner Professorin Jutta Allmendinger.

Foto: Thomas Kölsch

Gleiche Bildungschancen für alle? Die sieht die Soziologin und Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung nicht. Auf der Fachtagung "Bildung & Begabung", die gestern in Bonn stattfand, hat sich Allmendinger daher klar für einen großflächigen Umbau des deutschen Schulsystems ausgesprochen, um die verfestigte Bildungsarmut zu bekämpfen. Denn die bestehenden Strukturen sorgen in ihren Augen nur dafür, dass die Schere zwischen bildungsnahen und bildungsfernen Schichten immer weiter auseinanderklafft.

"Als Erstes muss man dafür sorgen, dass möglichst wenig Kinder verloren gehen", erklärt Allmendinger in einem Interview des General-Anzeigers. "Coaching- und Mentoring-Programme, die schon in frühen Jahren greifen, Potenziale entdecken und dann mögliche Wege aufzeigen. Den Kindern, aber auch den Eltern." Denn gerade Letztere gelte es zu überzeugen.

Kulturelle, finanzielle und soziale Barrieren gebe es viele - und zwar sowohl in Familien mit Migrationshintergrund als auch in einem gut situierten Umfeld. "Ich halte es für falsch, dass unsere Kinder so früh auf verschiedene Schulformen aufgeteilt werden", sagt die Soziologin. "Besser wäre es, wenn sie länger zusammenbleiben und sich gegenseitig helfen könnten. Wir haben festgestellt, dass in heterogenen Gruppen schwächere Kinder gewinnen, ohne dass dadurch leistungsstarke Kinder verlieren." Ein gemeinsamer Unterricht sei keine Gleichmacherei.

Tatsächlich setzt sich Allmendinger dafür ein, gesellschaftliche und soziale Bildung in den Schulen fest zu verankern. "Mein Sohn hat an seiner Schule gelernt, sich um andere Menschen zu kümmern. Er war für ein Mädchen im Rollstuhl mit verantwortlich - und das hat ihn sehr gestärkt", erinnert sie sich. Inklusives Bildungswesen, wie es sein könnte.

Doch dafür muss die Schule, die nach der Meinung von Allmendinger ohnehin zusätzlich mit Psychologen und Sozialpädagogen arbeiten sollte, auch die Zeit gewähren. "Das ist genau das Problem: Im gesamten Bildungsbereich wird Lebenszeit kondensiert, der Unterrichtsstoff wird verdichtet und zusammengestrichen. Diese Stresskette ist nicht gut. Stattdessen brauchen wir mehr Ganztagsschulen und Zeit, um Freiraum für die Ausbildung vielfältiger Kompetenzen zu schaffen."

Allmendinger spricht sich für den Wegfall des dreigliedrigen Systems aus zugunsten transparenter, alternativer Modelle, mit denen mehr Kinder nachhaltig gefördert werden können. "Unser Ziel muss es sein, alle mitzunehmen und alle gut zu bilden."

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