Russland und die Türkei im Syrien-Konflikt „Wir stehen am Rande des Krieges“

Istanbul · Im Norden Syriens eskalieren die militärischen Spannungen. Russland und die Türkei überziehen sich mit gegenseitigen Vorwürfen.

 Ein russisches Kriegsschiff passiert im Dezember die Küste vor Istanbul. Im Hintergrund ist die Blaue Moschee zu sehen.

Ein russisches Kriegsschiff passiert im Dezember die Küste vor Istanbul. Im Hintergrund ist die Blaue Moschee zu sehen.

Foto: dpa

Kurz vor dem geplanten Inkrafttreten eines neuen Waffenstillstandes in Syrien eskalieren die militärischen Spannungen im Norden des Bürgerkriegslandes weiter. Bei Luftangriffen und einem Raketenbeschuss wurden am Montag zwei Krankenhäuser zerstört. Die Türkei setzte unterdessen den Beschuss von kurdischen Stellungen in der Nähe der Stadt Azaz im Nachbarland am dritten Tag in Folge fort. „Wir stehen am Rande des Krieges“, schrieb der angesehene türkische Journalist Murat Yetkin in der Online-Zeitung „Radikal“.

Die USA, Russland und andere internationale Akteure hatten vergangene Woche eine Waffenruhe für Syrien vereinbart, die spätestens an diesem Donnerstag in Kraft treten soll. Doch bisher gibt es im Nord Syriens mehr Gewalt, nicht weniger.

Wie die türkische Nachrichtenagentur Anadolu unter Berufung auf Quellen in Azaz meldete, schlugen acht von russischen Kriegsschiffen im Mittelmeer abgefeuerte Raketen in der Stadt ein. Dabei seien sieben Zivilisten getötet und mehr als 50 verletzt worden. Zudem hätten russische Kampfflugzeuge eine von Flüchtlingen als Unterschlupf benutzte Schule in einem Dorf bei Azaz angegriffen und sechs Kinder getötet. Nachprüfen ließen sich die Angaben nicht.

Ärzte ohne Grenzen teilte mit, das Krankenhaus in der Provinz Idlib sei gezielt von Kampfjets ins Visier genommen worden. Mindestens sieben Menschen sind dabei getötet worden. In Idlib hatten russische Kampfflugzeuge in jüngster Zeit einen Vormarsch der syrischen Regierungstruppen unterstützt. Von russischer Seite lag zunächst keine Stellungnahme vor.

Laut türkischen Medienberichten und Regierungsangaben erwiderte die türkische Armee gestern in der Nähe von Azaz und nahe der Grenzprovinz Hatay weiter westlich das Feuer, nachdem das türkische Staatsgebiet von kurdisch beherrschten Gebieten in Syrian aus beschossen worden war. Schon am Samstag und am Sonntag hatte die türkische Artillerie Stellungen der syrischen Kurden beschossen.

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu stellte klar, dass die Artillerie seines Landes auch weiter auf Positionen der syrischen Kurdenmiliz YPG bei Azaz feuern werde, bis sich die Kurden aus dem Gebiet zurückgezogen hätten. Zugleich warf Davutoglu der russischen Regierung vor, die YPG als Instrument gegen die Türkei zu benutzen.

Die USA und die EU riefen die Türkei auf, die Militäraktion zu stoppen, doch die türkische Regierung zeigte sich unbeeindruckt. In einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel betonte Davutoglu laut türkischen Medienberichten, der Vormarsch der YPG im Norden Syriens könnte mehrere hunderttausend Menschen aus ihren Häusern vertreiben und damit eine neue Flüchtlingsansturm in Europa auslösen.

Nach einer Meldung der regierungsnahen Zeitung „Yeni Safak“ sprachen führende Politiker und Militärs in einer Sitzung unter der Leitung von Präsident Recep Tayyip Erdogan über eine Intervention in Azaz, das etwa acht Kilometer südlich der türkischen Grenze liegt. Die Türkei befürchtet, dass die von ihr als Terrorgruppe eingestufte YPG dort weiter Geländegewinne machen und so den Machtbereich der syrischen Kurden ausweiten könnte. Davutoglu sagte, die Türkei sei entschlossen, das zu verhindern. „Wir werden nicht zulassen, dass Azaz fällt“, sagte er. Gleichzeitig warnte er die Kurden vor einem weiteren Vorrücken. Dies würde eine harte Antwort der Türkei auslösen. Mit dem Artilleriebeschuss auf die Gegend um Azaz will Ankara zudem syrische Rebellengruppen schützen, die durch eine Regierungsoffensive um die Großstadt Aleppo, etwa 50 Kilometer südlich von Azaz, in Bedrängnis geraten sind.

Die russische Regierung erklärte, die Türkei habe erneut Kämpfern islamistischer Gruppen nach Syrien gelangen lassen. Moskau warf der Türkei wegen ihrer Angriffe auf kurdische Rebellenmilizen und syrische Regierungstruppen gestern außerdem Unterstützung des „internationalen Terrorismus“ vor.

Die syrische Regierung in Damaskus kritisiert ihrerseits die Türkei, bewaffnete Einheiten über die Grenze geschickt zu haben; auch eine regierungsfreundliche Zeitung in der Türkei berichtete über einen solchen Einsatz.

Davutoglu wies dies zurück und sagte, die Türkei sei keine Besatzungsmacht in Syrien. Auf Fragen von Journalisten nach einem möglichen türkischen Bodentruppeneinsatz antwortete Davutoglu ausweichend und verwies auf den türkischen Vorschlag zur Errichtung einer Schutzzone auf syrischem Gebiet.

Saudi-Arabien und Katar, die wie die Türkei das Ziel eines Sturzes des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad verfolgen, signalisierten unterdessen ihre Bereitschaft zur Entsendung von Bodentruppen nach Syrien. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte am Wochenende einen gemeinsamen Bodentruppeneinsatz der Türkei und ihrer arabischen Partner angedeutet.

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