Morandi-Brücke So leidet Genua 100 Tage nach dem Brückeneinsturz

Rom · 100 Tage ist es her, dass die Morandi-Brücke in Genua teilweise einstürzte. Im Dezember soll der Abriss der Brückenteile beginnen, dann der schnelle Neubau. So lauten die Versprechungen. Die Realität sieht weniger hoffnungsvoll aus.

Sie hatten zwei Stunden Zeit, um ein ganzes Leben einzupacken. Vor einigen Tagen durften die ehemaligen Bewohner der Häuser unter der eingestürzten Morandi-Brücke in Genua zurück in ihre Wohnungen. Feuerwehrleute begleiteten jeweils zwei Familienmitglieder, die dann in Windeseile ihr Hab und Gut einpacken sollten. Die Wohnhäuser müssen wohl abgerissen werden.

50 Kisten waren gestattet, zwei Stunden Zeit. „Das war nicht gerade viel“, sagt Giusy Moretti, eine der Betroffenen. Beim Einsturz des Viadukts am 14. August kamen nicht nur 43 Menschen ums Leben, mehr als 650 Personen verloren ihr Zuhause. Sie sind nun vorübergehend in Mietwohnungen in der Stadt untergebracht. Viele von ihnen, vor allem die Älteren, kommen täglich zurück an den Rand der „roten Zone“. Die heute wegen Einsturzgefahr der noch stehenden Pfeiler gesperrte Gegend war früher der Mittelpunkt ihres Lebens.

100 Tage sind seit dem Einsturz der Autobahnbrücke im Stadtgebiet von Genua vergangen. Beim Staatsbegräbnis einiger der Opfer im August applaudierten die Menschen den herbeigeeilten Politikern. Das wäre heute wohl kaum der Fall. Denn der Schock ist allgemeinem Frust gewichen.

Genua ist drei Monate nach dem Einsturz immer noch eine geteilte und ins Chaos gestürzte Stadt. Details zum Wiederaufbau, ja nicht einmal für den Abriss der noch stehenden Brückenpfeiler, gibt es nicht. Bürgermeister Marco Bucci sagt: „Wenn wir alle an einem Strang ziehen, werden wir die Brücke aufbauen, aber auch die Glaubwürdigkeit Italiens in kurzer Zeit wiederherstellen. Wenn wir hingegen streiten, machen wir das, wofür wir im Ausland berüchtigt sind.“ Im Moment sieht es eher nach der zweiten Option aus.

Die Stadt erstickt im Verkehrschaos

Seit dem Brückeneinsturz erstickt die 600 000-Einwohner-Stadt im Verkehrschaos. Weil die wichtigste Verbindungsachse zwischen Westen und Osten der Stadt unterbrochen ist, auf der jährlich 28 Millionen Fahrzeuge fuhren, staut sich der Verkehr auf den Umgehungsstraßen. Fast 100 000 Anwohner des Polcevera-Tals, über das die Autobahnbrücke führte, sind abgeschnitten und müssen lange Umwege fahren. Wer morgens in den westlichen Stadtteilen den Nahverkehr nutzen will, um ins Zentrum zu kommen, muss Schlange stehen, um in die Bahn oder den Bus zu gelangen. Das Gewerbegebiet im Westteil der Stadt wird kaum noch angefahren. Transportunternehmen sind zu kostspieligen Umwegen gezwungen. „Jede Fahrt kostet mich 100 Euro mehr“, schimpft der Transportunternehmer Aldo Spinelli. Die Morandi-Brücke war die wichtigste Verbindung auch für Fernfahrer aus Spanien und Frankreich, die Waren nach Mittelitalien transportieren wollten.

Für die Stadtbewohner kommt hinzu: Seit Wochen herrscht ein Müllchaos in der Stadt. Eine Deponie wurde durch den Brückeneinsturz in Mitleidenschaft gezogen, seit den Unwettern in den vergangenen Wochen sind die Reinigungsbetriebe mit der Beseitigung von Schäden und vom Meer angespültem Unrat beschäftigt. Die Folge: Viele Mülltonnen in der Stadt bleiben ungeleert.

Unrealistische Prognose

Als sei der Gestank nicht genug, sind auch die Nachrichten aus Rom nicht gerade aufmunternd. Fast zwei Monate hat die Ernennung des Sonderkommissars gedauert, der Bauaufträge vergeben kann und den Wiederaufbau koordinieren soll. Zum Kommissar wurde Bürgermeister Bucci ernannt. Der erklärte, der Abriss der noch stehenden Brückenteile solle am 15. Dezember beginnen, das neue Viadukt werde Ende 2019 stehen. Als „völlig unrealistisch“ bezeichnen Kenner diese Prognose. Allein die Einrichtung der Baustelle könne ein halbes Jahr dauern.

Erst vor wenigen Tagen verabschiedete die Regierung ein Notfalldekret. Darin wird unter anderem festgehalten, dass der Autobahnbetreiber Autostrade per L'Italia die Baukosten für die neue Brücke übernehmen soll. Der Konzern soll die Wartung der Brücke vernachlässigt haben. Derzeit untersuchen im Auftrag der italienischen Justiz Sachverständige in der Schweiz Brückenteile, um die Unglücksursache festzustellen. In einem Prozess sollen dann die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Wie lange dieser dauern wird, ist kaum abzusehen.

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