Lebensmittelspenden Musiker aus Braunschweig unterstützt Menschen in Ecuador

Braunschweig/Guayaquil · Der Musiker Carlos Utermöhlen unterstützt mit Essenslieferungen Familien in Ecuador, die besonders unter den Folgen der Corona-Pandemie leiden. Er selbst hat bereits einen Freund und eine Cousine durch das Virus verloren

 130 Kochbananenstauden werden von Cuatro Mangas, einem Vorort von Quevedo, in die 180 Kilometer entfernte Hafenstadt Guayaquil transportiert.

130 Kochbananenstauden werden von Cuatro Mangas, einem Vorort von Quevedo, in die 180 Kilometer entfernte Hafenstadt Guayaquil transportiert.

Foto: privat

Braunschweig und Guayaquil trennen rund 10.000 Kilometer. Doch die Bilder aus der ecuadorianischen Hafenstadt, die die drastischen Folgen der Corona-Pandemie bezeugen, erreichen auch Deutschland. Im April schien der Tiefpunkt in der Millionenstadt erreicht zu sein: Auf der Straße lagen zahlreiche Leichen, lediglich mit Leinentüchern bedeckt. Särge wurden knapp, Bestatter weigerten sich, die Verstorbenen abzuholen. Das Gesundheitssystem war innerhalb weniger Wochen komplett an seine Grenzen gestoßen. Die verzweifelten Menschen in Guayaquil sprachen von einer Apokalypse.

„Ein Freund von mir wurde in Ecuador vor dem Krankenhaus abgewiesen. Er hatte eindeutige Symptome, wurde nach Hause geschickt und ist dort gestorben. Er war Mitte 30“, erzählt Carlos Utermöhlen. Seit März engagiert sich der Musiker aus Braunschweig für ecuadorianische Familien, die unter der Pandemie leiden, und organisiert Essenslieferungen in unterschiedliche Gebiete des Landes.

„In deutschen Krankenhäusern hätten die beiden überlebt.“

Utermöhlens Mutter stammt aus Ecuador. „Anfang des Jahres hat sich das alles erst weit weg angefühlt. Und auf einmal war es so tragisch und ich war selbst betroffen – dadurch, dass ich dort Familie habe und sich die ersten Familienangehörigen im März infiziert hatten“, erzählt Utermöhlen. Mehr als fünfzig Cousins und Cousinen von ihm leben in Ecuador, eine von ihnen fiel ebenfalls dem Virus zum Opfer. Der 35-Jährige ist sich mit Blick auf seine eigenen Verluste im Familien- und Freundeskreis sicher: „In deutschen Krankenhäusern hätten die beiden überlebt.“

Für ihn ist es fast schon normal, sich stets ein wenig zerrissen und zwischen zwei Welten zu fühlen. Seine komplette Familie lebte nie gleichzeitig im selben Land, nicht einmal auf demselben Kontinent. Auch er ist immer wieder gereist, hat jahrelang außerhalb Deutschlands gelebt und gearbeitet. „Aber dieses Mal war es noch extremer.

Vor ein paar Monaten haben wir noch zusammengesessen und gelacht und auf einmal ist da so ein krasser Cut – man glaubt es erstmal nicht, fühlt sich hilflos“, versucht der Musiker das Erlebte in Worte zu fassen. Schließlich habe es ihm extrem geholfen, selbst etwas auf die Beine zu stellen, um mit der Situation umgehen zu können und „wenigstens ein bisschen was zu machen“.

130 Familien werden mit Essen versorgt

Innerhalb kürzester Zeit entwarf Utermöhlen gemeinsam mit seinem Freund, dem Jazzmusiker Jan Behrens, sowie einem in Ecuador lebenden Onkel ein Konzept. Im April dieses Jahres wurden daraufhin die ersten 130 Familien in Guayaquil mit Essen beliefert.

Anfang Oktober ist der siebte Lastwagen gestartet. Avocados, Reis, Orangen und Kochbananen werden aus Cuatro Mangas, einem Vorort von Quevedo, in einer rund dreistündigen Fahrt 180 Kilometer weiter nach Guayaquil gebracht. „Mein Onkel in Ecuador ist Bauer mit 40 Hektar Land, auf denen er unter anderem Bananen anbaut. Sonst wäre es ja unmöglich, das alles aus der Ferne zu organisieren“, erzählt Utermöhlen.

Doch auch er selbst kennt die Stadt sehr gut, weil er dort bereits beruflich mit seinem Projekt namens „Rapflektion“ tätig gewesen ist. Das Projekt hat Utermöhlen 2007 gegründet, seitdem hilft er Jugendlichen im Alter von 13 bis 17 Jahren beim Schreiben eigener Rap-Texte. Er sieht darin einen Weg, sich mit der eigenen Gefühlswelt und Wahrnehmung reflektiert auseinanderzusetzen.

Menschenfeindliche Weltbilder hinterfragen

Außerdem sorge das Vortragen der Texte und das Überwinden der eigenen Ängste bei den Teilnehmern für mehr Selbstbewusstsein. Mit manchen geht er als Abschluss einer Projektwoche sogar ins Tonstudio. Er betrachtet das Texten als Präventionsarbeit. Die Schüler erhielten so die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken und sich zugleich mit anderen Meinungen kritisch auseinanderzusetzen.

Das helfe ihnen dabei, menschenfeindliche Weltbilder zu hinterfragen. Seine Kurse bietet er in Schulen, Jugendzentren und Gefängnissen an. Neben den Workshops in Deutschland besteht seit 2012 eine Kooperation mit dem Goethe-Institut in Ecuador, die es dem Musiker ermöglicht, Workshops für benachteiligte Jugendlichen zu organisieren.

Außerdem wird er in Ecuador von der Initiative „Musiker ohne Grenzen“ unterstützt. Die Gruppe besteht aus Mitgliedern der Musikschule „Clave de Sur“, in der Utermöhlen regelmäßig unterrichtet. Für seine Rapflektion-Schüler in Ecuador vermittelt er inzwischen ebenfalls finanzielle Patenschaften.

 Seit 19 Jahren macht der 35-Jährige schon Musik. „Mein Schwager war eine Art Mentor für mich. Der hatte eine riesige Schallplattensammlung und hat mich quasi mit Rap infiziert“, erzählt der Musiker und lacht. „Ich fand es immer spannend, Gefühle und Lebenswelten so aufzuarbeiten“, sagt Carlos Utermöhlen. Aus ersten Gedichten wurden schließlich Songtexte.

Rap als Ausdruck von Empfindungen

Nach einem Praktikum in einem Tonstudio in Braunschweig „bin ich da so ein bisschen reingerutscht“. Seitdem bietet der freischaffende Künstler Workshops an, in denen es um Textarbeit und gewaltfreie Kommunikation geht. In den vergangenen Jahren war er viel innerhalb Deutschlands und in Lateinamerika unterwegs. Den Rap nutzt Carlos Utermöhlen als Ausdruck von Empfindungen und Erlebtem.

Er selbst rappt und singt sowohl in seiner Muttersprache Spanisch als auch auf Deutsch. Sexistisches, Rassistisches oder sonstwie Menschenverachtendes sucht man in seinen Liedern vergeblich. Im Gegenteil. „Ich wollte schon immer Brücken bauen.“

Trotz persönlicher Verluste hat der Musiker seine positive Einstellung nicht verloren. „Mein Antrieb ist: Mir geht’s hier in Deutschland einfach richtig gut und ich habe immer diesen Blick auf Lateinamerika gehabt und dachte: »Ich muss was tun«. Ich möchte mit meinen Projekten etwas bewegen.“

Über die Jahre arbeitete er in El Salvador, in Chile, Kolumbien und Ecuador. Dabei kam er mit viel Leid und Armut in Berührung: „Da waren Straßenkids dabei, Drogenabhängige und Gang-Aussteiger. Das sind Themen, die hier in Deutschland schwer zu greifen sind. Es hilft mir sehr, das Erlebte in eigenen Texten zu verarbeiten“, so Utermöhlen.

Schüler wurden ermordet

Teilweise habe er „Schüler verloren“: Sie wurden ermordet. „Da muss man mit umgehen können. Es tut natürlich weh, aber es gibt auch immer wieder auch hoffnungsvolle Momente, in denen man gemeinsam musiziert, und die überwiegen.“ Aus diesem Grund möchte er eine Hip-Hop-Schule in Quito gründen.

Unter anderem dazu soll ein neuer Verein „Vista humana“ ins Leben treten.

Im Moment seien sie zehn Personen, die sich gemeinsam engagieren und derzeit primär mit der Organisation der Essenslieferungen beschäftigt seien. Doch auch in der Zeit nach der Corona-Krise möchte der gemeinnützige Verein weiterhin Familien mit Lebensmitteln versorgen. Schließlich habe es in dem Land bereits in der Zeit vor der Corona-Krise zahlreiche Probleme und große Armut gegeben.

Die wichtigsten Papiere für die Vereinsgründung seien bereits eingereicht worden, im November könnte es endlich soweit sein, dass ihnen die Gemeinnützigkeit offiziell anerkannt wird. „Aus einer Privatinitiative wird ein Verein. Gerade die gemeinsame Arbeit und das »Wir« ist mir dabei wichtig“, betont Utermöhlen.

Insbesondere durch seinen Onkel habe er in Guayaquil einen vertrauenswürdigen Partner vor Ort. „So unterstütze ich ihn und die Lieferung wiederum die Familien. Das ist also ein ziemlich guter Kreislauf.“ Freunde von ihm nehmen schließlich die Lieferung entgegen und verteilen sie vor Ort.

Eine Lieferung kostet tausend Euro

Utermöhlen ist froh, dass es bisher keine Plünderungen oder Übergriffe gab. Dadurch, dass die Mittelschicht in Ecuador beinahe weggebrochen sei, gebe es abgesehen von wenigen wohlhabenden Familien beinahe nur noch Abstufungen von Armut. „Es geht nicht darum, wer es braucht, sondern wer es am nötigsten und dringendsten braucht.“ Die 4500 Orangen, 500 Avocados, 500 Kilo Reis und 130 Kochbananenstauden reichen für die 130 Familien aus, um zwei bis drei Wochen davon zu leben.

Mit den Spendengeldern aus Deutschland könne man in Ecuador viel bewegen: „Die 4500 Orangen kosten dann 250 Dollar.“ Eine gesamte Lieferung liegt bei umgerechnet rund tausend Euro. Bei einer monatlichen Lieferung soll es bleiben. Mit etwas Glück und genügend weiteren Spenden könne man die Abstände verringern oder zusätzlich andere Orte beliefern.

Nach Quito haben sie ebenfalls schon einen Lastwagen geschickt. Denn die Problematik habe sich mittlerweile in die Hauptstadt verschoben. Auch dort hat der 35-Jährige Freunde, die bei der Organisation und Umsetzung helfen. „Wir liefern dorthin, wo die Not am größten ist, da sind wir flexibel und können vielleicht sogar schneller reagieren als große Organisationen.“ Von den insgesamt rund 17 Millionen Einwohnern in Ecuador leben allein drei Millionen Menschen in Guayaquil, in Quito zwei Millionen.

Carlos Utermöhlen hat regelmäßig Kontakt zu seiner ecuadorianischen Familie. Dadurch werde ihm ständig vor Augen geführt, welche Privilegien er in Deutschland genieße. „Vor zehn Jahren ist der Wunsch in mir gewachsen, das Land meiner Mutter besser kennenzulernen.“ Seitdem reist er regelmäßig zu seiner Familie nach Ecuador und bietet dort seine Rap-Projekte an.

Vereinsgründung und Spenden sammeln

Schon in jungen Jahren lernte Utermöhlen, sich ständig auf neue Lebensumstände einzulassen. Als er acht Monate alt war, zog seine Familie mit ihm von Deutschland nach Tansania in Afrika. „Damals konnte ich fließend Kisuaheli sprechen, das habe ich mit der Zeit leider verlernt.“ Nach fünf Jahren ging es zurück nach Deutschland.

Selbst in Ecuador war er zuletzt im August vergangenen Jahres. Eigentlich wäre er im März wieder zu seiner Familie geflogen. Doch sein Flug wurde gestrichen. Utermöhlen geht realistisch an die Sache heran: „Vielleicht wird es im Jahr 2022 etwas. Denn obwohl es wünschenswert wäre: Ich glaube nicht, dass die armen Länder zuerst den Impfstoff bekommen – und bis das nicht passiert, bin ich vorsichtig.“

In den kommenden Wochen geht es nun darum, die Vereinsgründung vorzubereiten und Spenden zu akquirieren. Mit seinen Workshops ist Carlos Utermöhlen aktuell deutschlandweit tätig. Mal per Video-Chat, mal vor Ort – je nachdem was die Corona-Bestimmungen zulassen.

Fragen zu den Essenslieferungen und Spenden beantwortet Carlos Utermöhlen gern via E-Mail unter der Adresse carlos.utermoehlen@gmx.net.
Weitere Infos und Fotos gibt es unter www.facebook.com/VistaHumana.

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