Interview mit Alanus-Professor Sascha Liebermann „Auf die Bürger ist Verlass“

Bonn · Der Alanus-Forscher Sascha Liebermann fordert ein radikales Umdenken in der Sozialpolitik und plädiert für ein bedingungsloses Grundeinkommen.

 Plakataktion am Brandenburger Tor in Berlin: „Was würdest du tun, wenn man sich um dein Einkommen kümmert?“

Plakataktion am Brandenburger Tor in Berlin: „Was würdest du tun, wenn man sich um dein Einkommen kümmert?“

Foto: picture alliance/dpa/Bernd von Jutrczenka

Der deutsche Sozialstaat kann den Bürgern derzeit nicht den Lebensunterhalt sichern, glaubt der Soziologe Sascha Liebermann. Kurzarbeitergeld und andere Leistungen verhinderten dagegen den Strukturwandel. Liebermann plädiert für mehr Vertrauen ins Verantwortungsbewusstsein der Bürger – und für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Mit ihm sprach Martin Wein.

Wird die Corona-Pandemie die soziale Spreizung in der deutschen Gesellschaft verschärfen?

Sascha Liebermann: Die Auswirkungen fallen jedenfalls sehr unterschiedlich aus. In Berufen wie meinem können Sie relativ leicht ins Homeoffice ausweichen. In anderen Berufen ist das unmöglich. Bei Dritten – etwa vielen Selbständigen – bricht das komplette Einkommen weg – und die erhalten auch kein Kurzarbeitergeld. Diese Gruppe hat zwar immer mit Einnahmeschwankungen zu leben. Aber der Wegfall in dieser Breite zeigt doch eindrucksvoll die Ungleichheit in der Einkommenssituation.

Die finanziellen Hilfen des Staates erscheinen wie Almosen, um Bedürftige vor dem wirtschaftlichen Untergang zu retten. Sind die faktisch nicht ein gewisser Ausgleich für die Folgen des staatlichen Pandemie-Schutzes?

Liebermann: Ja und deshalb darf man sie – wie jeden Rechtsanspruch innerhalb der Sozialsysteme – erhobenen Hauptes in Anspruch nehmen. Das Problem ist jedoch, dass all diese Leistungen Erwerbseinkommen als Norm betrachten. Für Arbeitslosengeld und andere erwerbsbezogene Leistungen gilt stets, dass Sie sie entweder „verdient“ haben müssen oder danach streben müssen, sie wieder zu „verdienen“. Als Leistung zählt hierbei nur Erwerbsleistung.

Sie plädieren nicht erst in dieser Situation für eine alte Idee – ein personenbezogenes bedingungsloses Grundeinkommen.

Liebermann: Damit hätten wir in der jetzigen Situation eine weitaus bessere, in die Breite wirkende Einkommenssicherung erzielt, als es unser Sozialstaat von heute bewerkstelligt. Es wäre in diesem Sinne zielgenau, unkompliziert, dauerhaft wirksam und keine Notfallleistung.

Wie hoch müsste das ausfallen, um wirksam zu sein?

Liebermann: Die Untergrenze für eine alleinstehende Person bemisst sich an heutigen Leistungen der Grundsicherung, also Regelsatz plus etwaige weitere Leistungen beziehungsweise an der Pfändungsfreigrenze. Sie liegt bei circa 1180 Euro. Familien mit Kindern stünden bei gleichem Grundeinkommen für alle natürlich besser da. Es wird auch über eine Staffelung diskutiert, also niedrigere Beträge für Kinder, was für Alleinerziehende allerdings wieder Folgen hätte.

Sie haben aber keine Angst, dass ein Teil der Bevölkerung seinen Beruf dann dauerhaft an den Nagel hängt?

Liebermann: Dafür gibt es schlicht keine Hinweise. Ich bin bislang in der qualitativen Forschung auf keinen Fall gestoßen, in dem jemand nur arbeitet, um Geld zu verdienen. Die Menschen haben berufliche Neigungen, sie möchten sich einbringen, möchten etwas für andere tun. Das gilt selbst für sogenannte Einfachtätigkeiten. Darüber hinaus entsteht die sachangemessene Auseinandersetzung mit einer Aufgabe nicht, weil man Geld dafür erhält. Dass in standardisierten Befragungen die finanzielle Dimension ganz oben rangiert, hat mit ihrer Bedeutung für den Lebensunterhalt zu tun. Sie ist am einfachsten greifbar.

Wie stellen Sie sich die Finanzierung vor?

Liebermann: Die Finanzierung hängt an der volkswirtschaftlichen Leistung. Damit hat man einen Kuchen, den es zu aufzuteilen gilt. Für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist ein Teil des Kuchens reserviert. Der Rest steht für Löhne und Gehälter, hoheitliche Aufgaben und anderes zur Verfügung. Das Verhältnis zueinander kann man immer wieder austarieren, je nachdem, welche Prioritäten gesetzt werden.

Heute zahlen 20 Prozent der Steuerzahler bereits 80 Prozent der Steuern. Würden wir die mit Steuererhöhungen nicht überfordern?

Liebermann:  Das ist zu kurz gegriffen, entscheidender ist doch, welchen Anteil Ihres Einkommens geben Sie aufgrund von Steuern und Beiträgen ab, also was bleibt Ihnen davon? Wenn wir dann die Einkommen vergleichen, sieht das anders aus. Weitergehend ist die Frage, über welche Leistung sprechen wir? Die sogenannte unbezahlte Arbeit, gemessen im Stundenvolumen pro Jahr, ist erheblich umfangreicher als die bezahlte. Sie ist unerlässlich für das gesamte Leistungsgeschehen, damit erzielen Sie jedoch kein Einkommen in der Gegenwart, also dann, wenn Sie diese Leistung erbringen. Dazu gehört ganz wesentlich, was gemeinhin Erziehung von Kindern genannt wird, woraus die Bürger wie auch die Berufstätigen der Zukunft erwachsen.

Wir haben doch einen ausdifferenzierten Sozialstaat mit vielen Extraleistungen, zum Beispiel das Elterngeld?

Liebermann: Das ist – anders als das frühere Erziehungsgeld – eine Prämie für diejenigen, die vorher besser verdient haben, schafft also zwei Klassen von Eltern und signalisiert, dass Erwerbstätigkeit Vorrang hat. Eltern ohne Erwerbseinkommen erhalten nur einen Sockelbetrag, der dann noch mit dem Arbeitslosengeld II verrechnet wird.

Aber gibt es keine Schwelle, bei der die Gutverdiener sagen: Das lohnt sich für mich nicht mehr?

Liebermann: Natürlich gibt es die, aber sie lässt sich schwer bestimmen. In Schweden beispielsweise werden viel höhere Steuersätze getragen. Das hat viel mit Gerechtigkeitsentwürfen zu tun, also dem Selbstverständnis eines Gemeinwesens. Das sollte man pragmatisch sehen: Ein Grundeinkommen wird ohnehin nie eingeführt, wenn es nicht die grundsätzliche Bereitschaft dazu gibt.

Nach der Krise wird es eine Verteilungsdebatte geben?

Liebermann: Womöglich, zumindest gäbe es ausreichend Anlass dazu. Das erforderte dann eine Debatte über den Zweck des Sozialstaats. In einer Krise wie der aktuellen schafft er es nicht, für breite Schichten eine Grundabsicherung auf einfachste Weise bereit zu stellen und damit Kaufkraft zu schaffen. Sozialstaat und Wirtschaftsgeschehen stehen indes in einem Entsprechungsverhältnis, solange die Entfaltung des Einzelnen mit wirtschaftlichen Aktivitäten, politischem Engagement, aber auch der Übernahme von Haushaltsaufgaben möglich ist. Ein Sozialstaat, der den Bürgern mit Vorbehalten begegnet, für den nur Erwerbstätigkeit eine willkommene Leistung darstellt, blendet andere Seiten des Zusammenlebens aus. Das zeigt sich deutlich in der Forcierung außerhäuslicher Betreuung in den letzten 15 Jahren. Damit gräbt ein Gemeinwesen seinen Grundfesten das Wasser ab.

Im Moment wird nur über die Rettung der Wirtschaft gesprochen…

Liebermann: Und das ist überhaupt nicht leistungsfördernd. Das Kurzarbeitergeld zum Beispiel kann auch Strukturwandel verhindern, gegenwärtig haben wir aber keine andere Antwort. Wir diskutieren immer über Arbeitsplätze statt Wertschöpfung. Das hat mit der Vorstellung zu tun, dass wir Einkommen erwerben müssen. Leistungsfördernd wäre: Radikale Automatisierung dort, wo es vernünftig ist. Mitarbeiter nur dort, wo sie gebraucht werden. Hätten wir eine Sockelabsicherung, könnten wir auch solche Fragen anders diskutieren.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Der Party-Professor
Wissenschaftler in Bonn Der Party-Professor
Zum Thema
Aus dem Ressort