Der Börsencrash trifft jeden

Lebensversicherungen kürzen Überschussbeteiligung - Firmen kommen schwerer an Investitionsmittel - Deutsche Telekom muss Strategie überdenken - Bonner Unternehmen geben Börsenhoffnung auf

Der Börsencrash trifft jeden
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Frankfurt/Bonn. Es war das schlimmste Quartal für Aktiensparer seit 43 Jahren. Noch nie seit 1959 hat der Deutsche Aktienindex in einem Vierteljahr so stark verloren wie zwischen 1. Juli und 30. September 2002 - es gab einen Einbruch um 36 Prozent. 200 Milliarden Euro wurden allein bei den 30 Dax-Werten, den wichtigsten deutschen Aktien vernichtet.

Am Freitag fiel der Dax auf das Niveau von November 1996 zurück, und der Neue-Markt-Index Nemax auf ein Allzeittief von nur noch wenig über 300 Punkten. Dabei war es schon davor knüppeldick gekommen. Seit dem Höchststand im Frühjahr 2000 hat der Dax mehr als die Hälfte eingebüßt.

In keinem anderen Industrieland steht die Börse derzeit so schlecht da wie in Deutschland. Offenbar haben die internationalen Investoren auch wenig Vertrauen in die wirtschaftspolitische Arbeit der Bundesregierung.

"Rein rechnerisch ist ...

Die Auswirkungen des "Schlachtfestes am Aktienmarkt", wie die Börsenzeitung schreibt, sind weitreichend. Sie treffen keineswegs nur diejenigen, die direkt Aktien besitzen oder indirekt über Investmentfonds an der Börse engagiert sind. Nur fünf Prozent aller Deutschen haben ihr Geld in Aktien oder Aktienfonds angelegt.

Vor allem die Situation bei den Lebensversicherungen zieht Kreise. Sie haben einen Teil der eingenommenen Versicherungsprämien in Milliardenhöhe in Aktien investiert. Jetzt kippt die Kalkulation der Unternehmen. Die Versicherten bekommen es zu spüren: Reihenweise kürzen die Unternehmen derzeit die Gewinnbeteiligungen.

Vermeintlich sichere Renditen bei den Lebensversicherungen geraten ins Wanken. Schlimm trifft es Häuslebauer, die ihren Immobilienkredit über eine Lebensversicherung finanzieren.

Der Börsenabschwung hat aber noch andere Effekte. Die Bundesbank beklagte schon vor Monaten eine Kapitalvernichtung, die auch zu Konsumverzicht führe und damit das Wachstum drücke.

Die Anleger haben einfach kein Geld für das neue Sofa oder das neue Auto. Das drückt auf Umsätze und vor allem Gewinne von Handel und Industrie und damit auch auf den Arbeitsmarkt.

Wenn die Kurse in den Keller rauschen, fehlt andererseits den Unternehmen Geld für Investitionen, die wiederum den Arbeitsmarkt beleben könnten. Gemeinhin ist die Börse nämlich auch Kapitalsammelstelle für die Unternehmen.

Derzeit aber gibt es kaum eine Chance für Kapitalerhöhungen, der Markt für Börsengänge ist offenbar tot. Die Zeiten, als sich Anleger um neue Aktien rissen, sind längst vorbei.

So hatte zum Beispiel der Pützchener Software-Entwickler Comma Soft im September 1999 nach eigenen Angaben die Zulassung zum Neuen Markt erhalten. Spätestens im ersten Quartal 2000 sollten die Comma-Soft-Anteilsscheine in Frankfurt gehandelt werden.

"Angesichts der widrigen Verhältnisse an den weltweiten Kapitalmärkten hat die Comma Soft AG diese Pläne vorerst zurückgestellt", heißt es auf der Internet-Homepage des Unternehmens. In Folge der Turbulenzen der so genannten New Economy scheiterten auch die Pläne der Bonner Id-Pro GmbH.

Auf der Computermesse Cebit kündigte das ehemals 100 Mitarbeiter starke Unternehmen noch seine Börsenambitionen an. Wenig später beantragte Id-Pro Insolvenz.

... bei Null eine Grenze"

Oder der Bonner Elektronikkonzern Moeller (12 000 Beschäftigte/1,23 Milliarden Euro Jahresumsatz): Für seine Restrukturierung benötigte das Familienunternehmen dringend Geld. Das hätte Moeller gerne an der Börse geholt. Der Kurssturz gab diesen Plänen keine Chance. Jetzt soll Moeller verkauft werden.

Mindestens zwei Mal hatten auch die Verantwortlichen der Deutschen Telekom den Börsengang von T-Mobile vorbereitet. Beim ersten Mal war es die geplante Übernahme des US-Mobilfunkers Voicestream, die zur Verschiebung des Börsenganges führte. In diesem Jahr verhagelte die katastrophale Lage an den Börsen den Gang auf das Parkett.

Die eingeplanten Mittel fehlen jetzt für den Abbau der drückenden Schuldenlast von mehr als 60 Milliarden Euro. Weiterer Effekt: Bei der Telekom wie bei der Deutschen Post AG verhindern die schwachen Kurse auch die weitere Privatisierung.

Hinzu kommt, dass zahlreiche Bilanzskandale bis hin zu Straftaten das Vertrauen der Anleger zerstört haben. Die Börse wird da nicht anders behandelt als ein ganz normaler Laden: Wenn man das Gefühl hat, über den Tisch gezogen worden zu sein, geht man nicht mehr hin.

Wo der jetzige Absturz nach unten aufhören soll, weiß niemand. "Rein rechnerisch ist bei Null eine Grenze", sagt ein frustrierter Anlageberater.

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