Apotheke in Bornheim Der Druck auf Apotheken in NRW wächst

Bonn · Eine bisher unveröffentlichtes Gutachten zur wirtschaftlichen Situation der rund 20 000 Apotheken in Deutschland hat für Wirbel gesorgt. Fast jeder zweiten Apotheke drohe das Aus. Der Apotheker Markus Reiz über seine Strategie und den „Sündenfall der Politik“.

Apotheker Markus Reiz hat vorgesorgt: Er besitzt eine Versandhandelslizenz. „Wir haben die Lizenz mehr als strategische Option“, erzählt der Vorsitzende des Apothekerverbandes Bonn/Rhein-Sieg, der sein Geschäft im Zentrum von Bornheim hat. Strategisch heißt: Wenn der wirtschaftliche Druck auf die traditionelle Apotheke so groß werden sollte, dass auch Reiz es für sinnvoll hält, seine Ware online zu verkaufen.

Eine bisher unveröffentlichtes Gutachten zur wirtschaftlichen Situation der rund 20 000 Apotheken in Deutschland hat für Wirbel gesorgt. Demnach droht fast jeder zweiten Apotheke das Aus. In Nordrhein-Westfalen hat seit 2005 bereits jede zehnte Apotheke dicht gemacht.

Auch in Bonn und dem Rhein-Sieg-Kreis gibt es Schließungen: Waren es im Jahr 2007 noch 259 Apotheken, reduzierte sich ihre Zahl innerhalb von zehn Jahren auf 242. Und Reiz weiß von zwei weiteren, die ihr Geschäft in der Zwischenzeit aufgegeben haben. Die Situation in der Region sei nur deshalb nicht ganz so dramatisch, weil sie – anders als etwa der Niederrhein oder das Ruhrgebiet – Zuzugsgebiet sei.

Für Reiz ist der Versandhandel nur ein „Mosaikstein“ in einem größeren Bild, dessen Bestandteile der Präsenzapotheke das Leben immer schwerer machten. Das vom Bundeswirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Apothekengutachten, über das der General-Anzeiger berichtete, empfiehlt eine Reform der Arzneimittelpreisverordnung.

Ist die Gebührenordnung der „Kern des Gesundheitswesens“?

Sie garantiert, dass verschreibungspflichtige Arzneimittel bundesweit zum selben Preis an den Patienten verkauft werden. Der Apotheker verdient dabei an dem festen Zuschlag, den er pro Packung erhält. Die Gutachter behaupten, die Apotheker strichen über eine Milliarde Euro zu viel ein. „Wie passt das zusammen, wenn auf der anderen Seite Tausende Apotheken in ihrer Existenz bedroht sind?“, fragt Reiz.

Für den Bornheimer Apotheker ist die Gebührenordnung der Eckpfeiler nicht nur seiner Existenz. „Mit der Gebührenordnung würde auch ein ganz wichtiger Kern unseres Gesundheitswesens fallen“, sagt Reiz.

Tatsächlich ist das Arzneimittelpreissystem ein kompliziertes Geflecht von frei festgesetzten Herstellerpreisen (für patentgeschützte Medikamente), Festbeträgen, Versichertenzuschlägen, Großhandelsrabatten, Abschlägen für die Krankenkassen und vielem mehr. An dieses System müssen sich alle Apotheker im Bereich der rezeptpflichtigen Medikamente halten.

Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) beklagt, dass die Krankenkassen über die Jahre immer höhere Abschläge ausgehandelt hätten, die sich inzwischen auf mehr als eine Milliarde Euro jährlich zu Lasten der Apotheken summierten. Machten die Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) 2006 noch 16,1 Prozent der GKV-Ausgaben aus, sind sie bis 2016 schrittweise auf 14,8 Prozent gesunken. Der Anteil der Apotheken daran betrug 15,3 Prozent. Auch diese Zahl sank über die Jahre.

Den Arzneimittelversandhandel hält Reiz für „einen Sündenfall der Politik“. Seit 2004 können Medikamente im Internet bestellt und per Post versandt werden. Europarechtlich war die entsprechende Freigabe nur für rezeptfreie Arzneimittel notwendig, doch der deutsche Gesetzgeber hat auch gleich den Versand von verschreibungspflichtigen Medikamenten freigegeben – was nur sieben von 28 EU-Staaten überhaupt gemacht haben. Der Europäische Gerichtshof entschied 2016, dass Deutschland ausländischen Versandhändlern erlauben muss, Preisnachlässe auf rezeptpflichtige Medikamente zu geben.

Streit über das Rabattverbot für rezeptpflichtige Arzneimittel

Seitdem streitet die Politik, ob sie das Rabattverbot auch für deutsche Apotheker lockert oder den Versandhandel für rezeptpflichtige Medikamente in Deutschland wieder verbietet.

Reiz hält die Argumente der europäischen Richter für hanebüchen. Wenn nicht mehr überall dieselben Arzneimittelpreise gälten, müsse der akut Kranke in der Landapotheke womöglich mehr zahlen, weil der Apotheker ja irgendwie seinen Schnitt machen müsse. Genau das hätten die Luxemburger Richter sich vorgestellt. Wenn der Preiswettbewerb so richtig in das Gesundheitswesen einziehe, wäre das das Ende der freien Apotheke. „Dann übernehmen Konzerne die Medikamentenversorgung“, sagt Reiz mit Blick auf den ausländischen Versandhandel. „Wollen wir das wirklich?“

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