Ausbildungsmarkt in der Region "Die schauen nur auf meine Fünf in Mathe"

BORNHEIM · Schattenseite des Ausbildungsmarkts in der Region: Über die vergebliche Suche einer jungen Frau nach einer Lehrstelle.

Sie hat Kopien gemacht, fein säuberlich. Von ihren Bewerbungsschreiben um eine Ausbildungsstelle, die sie mehr als einem Jahr verschickt. "So ungefähr hundert", sagt Lisa Neumann (Name von d. Redaktion geändert). "Aber die haben wohl nur auf meine Fünf in Mathe geschaut und das dann weggeworfen. Überhaupt geantwortet haben nur ganz wenige."

Seit einem Jahr hat die 19-Jährige Bornheimerin ihren Realschulabschluss in der Tasche. In einer Region, in der viele Betriebe angeblich händeringend Lehrlinge suchen. "Insbesondere kleinere Unternehmen kämpfen mit rückläufigen Bewerberzahlen", sagt Jürgen Hindenberg, Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung bei der Industrie- und Handelskammer (IHK) Bonn Rhein-Sieg.

Doch die allgemein komfortable Situation für Schulabgänger - 3100 Ausbildungsverträge wurden in der Region in diesem Jahr abgeschlossen, zuletzt standen 162 Bewerbern noch 238 offene Ausbildungsstellen gegenüber - hilft Lisa Neumann nicht. Sie steht auf der Schattenseite des Ausbildungsmarkts, ist eine von denen, die bisher keine Lehrstelle gefunden haben. Dabei würde sie gerne arbeiten, hat Praktika gemacht und Aushilfsjobs angenommen. "Hier zu Hause rumsitzen zu müssen, das fühlt sich schrecklich an", sagt sie.

Weil ihre Bewerbungsschreiben immer wieder unbeantwortet blieben, hat sie es mit persönlicher Übergabe und Nachfragen versucht. Nach einem sechsmonatigen Praktikum in einer Tierarztpraxis wäre eine Ausbildung zur tiermedizinischen Fachangestellten ihr Traum, sagt sie. Doch wenn sie Wochen später bei Bewerbungen in Tierarztpraxen nachgefragt habe, seien Herr oder Frau Doktor am Telefon leider nie für sie zu sprechen gewesen. "Die Sprechstundenhilfen waren immer freundlich und haben mich vertröstet, ich sollte ein anderes Mal wieder anrufen. Irgendwann habe ich es aufgegeben."

Auch für eine Lehre in einem anderen Beruf wäre Lisa Neumann inzwischen dankbar. Im Frühjahr versuchte sie ihr Glück auf einer "Speeddating"-Messe für Schulabgänger und Betriebe im Bonner Museum Koenig: "Bei den Ausstellern ging der erste Blick auf die Mathenote, und dann haben sie gelacht über mein Zeugnis", berichtet Neumann von der frustrierenden und beschämenden Erfahrung. "Aber ich war nicht alleine. Da gab es noch viele andere enttäuschte Gesichter." "Wenn die Mathenote nicht stimmt, haben Schulabgänger ein großes Problem", räumt IHK-Geschäftsführer Hindenberg ein. "Das ist schon ausschlaggebend." Und er bestreitet auch nicht, dass viele Lehrstellenbewerber die Erfahrung machen, dass ihre Bewerbungsschreiben von den Unternehmen überhaupt nicht beantwortet werden. "Das kommt leider häufig vor, und wir bedauern das sehr", sagt er.

Bei einer ausgeprägten Matheschwäche könne es sich um Dyskalkulie handeln, eine Lernbehinderung, die von der Arbeitsagentur festgestellt werden könne. "Wir haben für Menschen mit Dyskalkulie extra Ausbildungsberufe", macht Hindenberg all denen Hoffnung, die wie Lisa Neumann mit der Zahlenwelt auf Kriegsfuß stehen. Im Programm "Vera" - Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen - werde dem Lehrling ein Pate zur Seite gestellt, und die Arbeitsagentur könne ausbildungsbegleitende Hilfen wie etwa Mathe-Nachhilfe finanzieren.

Bei Neumanns belastet die vergebliche Lehrstellensuche von Lisa längst die Familie: "Ich finde es sehr traurig, wie respektlos meine Tochter bei ihren Bewerbungen behandelt wird", sagt Susanne Neumann. Und dann zeigt sie einen gerade eingegangenen Brief der Arbeitsagentur, dass das Kindergeld gestrichen werden soll, weil Lisa keine Lehre begonnen habe und offenbar auch keine Ausbildung suche: "Dagegen muss ich jetzt Einspruch erheben. Solcher Formularkrieg belastet uns noch zusätzlich."

Lisa Neumann hat nach der vergeblichen Lehrstellensuche erst einmal wieder die Schulbank gedrückt. Auf dem Berufskolleg in Bonn-Duisdorf konnte sie sich in Mathe immerhin auf ein "Ausreichend" verbessern. Ein Dutzend Bewerbungen mit dem neuen Zeugnis hat sie schon abgeschickt. In einem Bonner Betrieb steht sie nach einem Praktikum, das ihr viel Freude gemacht hat, auf einer Warteliste auf einen Ausbildungsplatz im nächsten Jahr. Jetzt hofft sie auf eine Zusage: "Ich möchte endlich das Gefühl haben, gebraucht zu werden."

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