Dauerstau in der Region Experten warnen vor Verkehrskollaps

Bonn/Rhein-Sieg-Kreis · Mit Sorge blicken Firmen in der Region auf kommende Großbaustellen und wollen die Koordinierung mitgestalten. Experten warnen: Die Verkehrsinfrastruktur ist an ihre Grenzen gekommen.

 Die Verkehrsinfrastruktur ist auch deshalb an ihre Grenzen gekommen, weil sie einmal für weniger Menschen angelegt war, sagen Experten. Staus kosten hiesige Firmen jedes Jahr Millionen.

Die Verkehrsinfrastruktur ist auch deshalb an ihre Grenzen gekommen, weil sie einmal für weniger Menschen angelegt war, sagen Experten. Staus kosten hiesige Firmen jedes Jahr Millionen.

Foto: Volker Lannert

Das Stau-Jahrzehnt ist schon ein geflügeltes Wort, bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Zumindest was die Region Bonn/Rhein-Sieg angeht. Die Großbaustellen kommen noch: der Quasi-Neubau der Nordbrücke beginnt voraussichtlich im kommenden Jahr, die Südbrücke ist nach derzeitigem Stand ab 2023 dran, der Umbau des Tausendfüßlers noch nicht terminiert. Im Vorfeld hat der Landesbetrieb Straßen NRW nun innerhalb seiner Transparenzoffensive „Bonn bewegt“ Unternehmen, Verbände, Stadt- und Kreisverwaltung am Mittwochabend in nicht-öffentlicher Runde über diesen Planungsstand informiert. Künftig soll es ein solches Treffen vier Mal im Jahr geben, sagte Thomas Ganz vom Landesbetrieb dem GA.

Drohenden Verkehrsinfarkt vermeiden

Er spricht nach einer Bürgerinformation vor einigen Wochen von einem „ersten Auftakt“. „Wir wollen alle Beteiligten einbinden, um gute Lösungen zu finden.“ In der Wirtschaft wird das durchaus positiv gewertet: „Wir wollen mit den Verkehrsexperten des Landesbetriebs, der Stadt und dem Kreis in einen Dialog eintreten, um die Auswirkungen für Mitarbeiter und Unternehmen zu minimieren“, sagte Peter Kespohl, Sprecher der Telekom. Stephan Wimmers, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Bonn/Rhein-Sieg, empfand das Treffen als konstruktiv, „aber klar ist, dass wir eine super Koordination brauchen“. Gemeinsam hat man dazu einen Fragenkatalog entworfen und dem Landesbetrieb mitgegeben. Darin ist auch der Vorschlag einer Task Force zu finden, einem Koordinierungsstab mit Unternehmerbeteiligung, um den drohenden Verkehrsinfarkt zu vermeiden.

Warnruf aus den Unternehmen

Die Sorgen der großen Arbeitgeber sind mit Blick auf die befürchteten Verkehrsprobleme beträchtlich. Wer sich unter den Teilnehmern von der Kreishandwerkerschaft bis zur IHK und Händlern umhört, vernimmt einen deutlichen Warnruf, „dass die Koordinierung zwischen Landesbetrieb, Stadt und Kreis funktionieren muss“, wie es Karina Kröber vom Bonner Einzelhandelsverein Citymarketing sagt. Rita Lorenz, Sprecherin des Rhein-Sieg-Kreises, betont auf Nachfrage: „Es gibt beim Verkehr eine gute Zusammenarbeit zwischen Kreis und Stadt, aber wir werden darauf angewiesen sein, dass uns der Landesbetrieb gut informiert.“ Das sieht der Bonner Stadtbaurat Helmut Wiesner ähnlich: „Dem Landesbetrieb muss es gelingen, zu jeder Bauphase – wie angekündigt – jeweils zwei Fahrstreifen pro Richtung aufrecht zu erhalten.“ Er sieht auch die Unternehmen in der Pflicht, mit betrieblichem Mobilitätsmanagement Arbeitnehmer zum Umstieg auf öffentliche Nahverkehrsmittel zu bewegen.

Hermann Tengler, Wirtschaftsförderer des Rhein-Sieg-Kreises, sorgt sich, dass über kurz oder lang bei zahlreichen Firmen tatsächlich die Lichter ausgehen, wenn sich die Verkehrsbedingungen nicht ändern. „Ich befürchte, dass wir einen zweigeteilten Arbeitsmarkt bekommen“, sagt der promovierte Volkswirt, der im Kreis auch für Planung und Verkehr zuständig ist.

Rheinbrücken sind Nadelöhr

Weil die Rheinbrücken als das Nadelöhr der Region in die Bauplanungen der kommenden Jahre einbezogen sind, werden es sich Arbeitnehmer aus Tenglers Sicht künftig drei Mal überlegen, ob sie überhaupt noch einen Job auf der jeweils anderen Rheinseite annehmen. „Wir sehen einen zunehmenden Fachkräftemangel. Ein geteilter Arbeitsmarkt begrenzt für Unternehmen auf der Suche nach Mitarbeitern das Arbeitskräftepotenzial“, gibt Tengler zu bedenken. Auch Betriebe, die ihre Kunden im Nahbereich haben, dürften Schwierigkeiten bekommen. Tengler denkt insbesondere an das Handwerk. „Die Zeit, die ein Handwerker bei der Anfahrt zum Kunden verliert, weil er im Stau steht, ist verlorene Zeit, die seinen Umsatz schmälert. Die kann er dem Kunden nicht in Rechnung stellen.“

Handwerker können nicht ausweichen

Ausweichmöglichkeiten hat ein solcher Handwerker nur bedingt. „Wer linksrheinisch seine Firma hat, kann sich in der Eifel nach neuen Kunden umsehen“, meint Tengler. Aber dort gilt: weite Wege, dünn besiedelt. „Ob seine Absatzstrategie aufgeht, ist fraglich.“ Für die Logistikunternehmen hat die IHK Bonn/Rhein-Sieg schon vor drei Jahren eine Studie erstellt. 60 000 Lkw haben sie in ihrem Fuhrpark. Steckt auch nur die Hälfte dieser Fahrzeuge täglich eine halbe Stunde im Stau, büßen die Unternehmen der Studie zufolge in der Summe jährlich 100 Millionen Euro ein.

Die Verkehrsinfrastruktur ist auch deshalb an ihre Grenzen gekommen, weil sie einmal für weniger Menschen angelegt war. Seit dem Umzugsbeschluss für Bundestag und -regierung 1991 ist die Region um 120 000 Einwohner gewachsen, Weg- und Zuzüge gegengerechnet. Zudem gibt es im Saldo rund 40 000 mehr Firmen. „Es sind jeden Tag rund 130 000 Menschen die zur Arbeit nach Bonn einpendeln“, erklärt Tengler. Die Wirtschaftsstruktur tut ein übriges. Sie wird von kleinen Firmen beherrscht, mehr als 80 Prozent machen einen Jahresumsatz von unter 500 000 Euro. Es gibt kaum Industrie. „Bonn hat eine der höchsten Arbeitsplatzdichten in Deutschland“, sagt Tengler. In der Region wird zudem auch der Wohnraum eng – es sei denn, man baut in die Höhe. „Immer mehr Menschen, die in Bonn einen Arbeitsplatz finden, haben ihren Wohnort im Rhein-Sieg-Kreis.“

Nachteile für die Bonner Innenstadt

Große Nachteile durch die marode Verkehrsinfrastruktur sieht der Wirtschaftsförderer auch auf den Einzelhandel in der Bonner Innenstadt zukommen. „Gerade höherpreisige Geschäfte verlieren ihre Kunden, wenn das Zentrum nicht mit dem Auto erreichbar ist. Wir können es uns nicht leisten, dass dort Tiefgaragen für lange Zeit geschlossen sind.“

Für alle Unternehmen gilt zudem: „Es hat negative Folgen für die Produktivität, wenn Menschen unpünktlich, überhaupt nicht oder verärgert zur Arbeit kommen, weil sie auf dem Weg dorthin ständig im Stau stehen.“ Darunter leide aber auch die Lebensqualität. Die Folge: Die Region gilt nicht mehr als attraktiver Standort. Tengler weiß: „Eine Lösung für die Probleme fällt nicht vom Himmel“, schließlich sei die Verkehrsinfrastruktur über Jahrzehnte vernachlässigt worden. „Die Unternehmen müssen einen ganzen Instrumentenkoffer anwenden. Das reicht von der Arbeit zu Hause, dem Home Office, bis zur Bildung von Fahrgemeinschaften.“ Auch im Fahrrad sieht Tengler „viel Potenzial“. „Wir müssen die Radwege ausbauen und auch Schnellfahrwege anlegen.“ Auch wenn die angedachte Seilbahn zum Venusberg nur ein Tropfen auf den heißen Stein wäre: Sie könne eine regionale Entlastung bieten, wenn sie bis zum Bahnhof Ramersdorf reiche.

Auch Handwerker in der Region leiden immer stärker unter Verkehrsproblemen. „Die Situation verschlechtert sich, die Kosten für die Betriebe steigen“, sagte Ortwin Weltrich, Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Köln. Nach einer Hochrechnung der Kammer kosten Staus die über 33 000 Betriebe pro Jahr 290 Millionen Euro. Das sind 50 Millionen mehr als vor zwei Jahren ermittelt.

Auf seiner Internetseite informiert der Landesbetrieb über Baustellenplanungen und bietet ein Kontaktforum.

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