Arbeiten mit Handicap, Teil 6 Neue Ordnung im Pasta-Regal

ALTENHOFEN/SANKT KATHARINEN · Sechs Uhr. Der Wecker klingelt. Christine Buslei steht auf. Zähneputzen, anziehen, Haare kämmen - dann steht auch schon der Bus vor der Haustür, der sie von Altenhofen im Westerwald zum CAP-Markt in Sankt Katharinen bringt.

Klingt wie der Beginn eines gewöhnlichen Arbeitstages einer gewöhnlichen jungen Frau. Doch für die 23-Jährige ist dieser normale Alltag keineswegs selbstverständlich.

Denn Christine ist von Geburt an geistig und körperlich behindert, was auf ihrem Schwerbehindertenausweis mit einem Behinderungsgrad von 70 Prozent vermerkt ist. Und trotzdem geht die 23-Jährige einer normalen Tätigkeit in einem CAP-Markt nach. In diesen Märkten arbeiten Menschen mit und ohne Behinderung zusammen. Betreiber des CAP-Marktes in Sankt Katharinen ist die Heinrich-Haus gGmbH Neuwied, ein Rehabilitationszentrum für Menschen mit Behinderung.

Inzwischen ist es viertel vor Acht. Der Bus ist in Sankt Katharinen angekommen. "Zuerst sortiere ich immer die Zeitungen ein", sagt Christine. "Dann bin ich bis halb zehn an der Kasse." Frühstückspause. Im Laden herrscht eine lebendige Atmosphäre. Hin und wieder gibt es eine herzliche Umarmung - wie in einer großen Familie eben. "Ein gutes Team ist uns wichtig", sagt Patrizia Eßer, pädagogische Fachkraft und seit neun Wochen im CAP-Markt. "Es ist uns wichtig einen kreativen Ausgleich zu ermöglichen und so machen wir zum Beispiel gemeinsame Ausflüge ", erzählt die Pädagogin. So soll die Gruppendynamik auch außerhalb der Arbeitszeiten gestärkt werden.

Christine hat, nachdem sie eine Sonderschule besuchte, in Vallendar bei Koblenz ihren Hauptschulabschluss nachgeholt. Dann kam sie nach Moers zum CJD Berufsbildungswerk Niederrhein und schloss dort eine zweijährige Ausbildung zur Verkaufskraft ab.

Darauf folgten etwa zwei Jahre lang zahlreiche Praktika und Bewerbungen. "Niemand wollte sie einstellen", erzählt Christines Mutter. "Teilweise ging ein Praktikum über mehrere Monate und endete schließlich mit einer Absage", berichtet sie weiter. "Ich kam mir ausgenutzt vor", steuert Christine bei. Dann kam sie schließlich für etwa ein Jahr in die Behindertenwerkstatt in Sankt Katharinen. Dort wurde jedoch schnell klar, dass sie unterfordert ist. Als sie von der Eröffnung des CAP-Marktes erfuhr, war ihre Begeisterung nicht mehr zu stoppen.

"Ich hatte meine Ausbildung im Verkauf gemacht und da wollte ich auch unbedingt wieder hin", sagt die 23-jährige. Auf eine Bewerbung als Vollzeitkraft im Markt erhielt sie jedoch eine Absage. "Das hat mich schon ein bisschen enttäuscht", gibt Christine zu. Kurz darauf wurde sie jedoch von der Werkstatt an den Markt verwiesen - als Arbeitskraft mit Handicap. Zuerst absolvierte sie dort ein Praktikum, das alle Mitarbeiter mit Behinderung vor ihrer Einstellung durchlaufen müssen. In der Regel dauert das vier bis acht Wochen. "Es gibt Aufgaben, die wir leider nicht der Behinderung des Menschen anpassen können. Deshalb ist die Arbeit im CAP-Markt nicht für jeden geeignet ", erklärt Marktleiterin Andrea Schertler. Vor allem die Belastung durch die langen Öffnungszeiten von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends sei für viele Menschen mit Behinderung zu groß.

Eine 40-Stunden-Woche mit wechselndem Schichtdienst ist nun Christines neuer Arbeitsalltag. Sie ist Teil eines Teams, das aus über 30 Mitarbeitern besteht - etwa 20 davon mit Behinderung. Der Markt in Sankt Katharinen zählt etwa 600 Kunden am Tag. "Die Kunden schätzen vor allem auch den sozialen Aspekt", sagt Andrea Schertler. Seit der Eröffnung im November 2012 steige der Umsatz jedes Jahr und liege über den damaligen Berechnungen. Genaue Angaben über Umsätze und Gehälter möchte der Träger auf Nachfrage jedoch nicht machen.

Schertler arbeitete zuvor in diversen Supermärkten und kennt die Eigenheiten im CAP-Markt genau. "Wenn in einem herkömmlichen Markt eine Palette mit neuer Ware ankommt, weiß jeder was zu tun ist. Wenn aber bei uns eine Palette ankommt, sind die Fragezeichen groß." Derartige Arbeitsabläufe seien für viele Mitarbeiter zu Beginn völliges Neuland gewesen. Ein gutes Beispiel seien auch die Barilla-Nudelprodukte. "Barilla ist Barilla. Da ist es erst einmal egal, dass es davon verschiedene Nudelsorten wie Fusilli oder Spaghetti gibt. Die werden einfach hintereinander im Regal gestapelt", lacht sie.

Christine arbeitet vorwiegend an der Kasse oder in dem zum Markt gehörenden Backshop. "Der Unterschied zur Werkstatt besteht darin, dass der Mensch mit Behinderung in direktem Kundenkontakt steht, die Arbeit mit echtem Geld und mit echten Artikeln verrichtet, wie auf dem ersten Arbeitsmarkt", erklärt Andrea Schertler. Laut Schertler gibt es auch einige Mitarbeiter, die nicht an der Kasse arbeiten können, weil sie große Defizite beim Lesen, Rechnen und Schreiben aufweisen. Christine, die als Kind an Epilepsie litt und deren Lernschwäche sich erst in der Grundschule offenbarte, ist heute eine selbstbewusste junge Frau, die ihren Arbeitsalltag souverän zu meistern scheint. Auf die Frage, was sich die 23-Jährige für ihre berufliche Zukunft wünscht, antwortet sie entschlossen: "Etwas mehr Geld und mehr Freizeit!"

Der General-Anzeiger berichtet in lockerer Reihenfolge über die Situation am Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung.

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