Industriegeschichte in der Region Seit 100 Jahren stellt Evonik in Niederkassel Chemieprodukte her

NIEDERKASSEL · Noch Anfang des 20. Jahrhunderts verdienten die Niederkasseler ihr Geld vor allem mit dem Anbau von Rhabarber und der Korbflechterei. Die rechtsrheinischen Dörfer mit insgesamt nur rund 800 Einwohnern waren so schlecht erreichbar, dass sie von den Nachbarn als "der Balkan" verspottet wurden. Von Industrialisierung keine Spur.

 Der Evonik-Standort Lülsdorf heute.

Der Evonik-Standort Lülsdorf heute.

Foto: Evonik

Die Skepsis war entsprechend groß, als der Chemiker Meyer Wildermann und der Industrielle Hugo Stinnes im Jahr 1913 mehr als 54 Hektar Bauernland als Fläche für den Bau einer chemischen Fabrik kauften.

Vor allem die Lage überzeugte die Firmengründer: Nah am Rheinufer in Lülsdorf konnten Frachtschiffe anlegen, trotzdem war das Werksgelände vor Hochwasser sicher. Ein Bahnanschluss an die "Rhabarberschlitten" genannte Kleinbahn zwischen Siegburg und Zündorf sollte für den Transport der Ware sorgen.

Vor fast genau 100 Jahren startete die Produktion der damaligen Wildermann-Werke, die noch heute als Tochter des Evonik-Konzerns größter privater Arbeitgeber in Niederkassel sind. Rund 500 Beschäftigte kümmern sich hier wie in den Anfangszeiten um die Herstellung chemischer Produkte. Noch immer wird in Lülsdorf mit dem Verfahren der Elektrolyse gearbeitet. Der Chemiker Meyer Wildermann hatte eine spezielle Methode zur Herstellung von Lauge und Chlor entwickelt. Die Stoffe lieferte das Werk unter anderem an Hersteller von Farben, Glas oder Schmierseife.

Anfangs fehlten dem Chemiestandort in der bäuerlichen Gegend qualifizierte Mitarbeiter. Kurz nach Werksgründung bauten Stinnes und Wildermann daher die noch heute erhaltene Werkssiedlung an der Deutz-Mondorfer-Straße, heute Porzer Straße.

Kurz nach der Firmengründung begann der erste Weltkrieg. Das Werk lieferte Wasserstoff für die Streitkräfte, die damit Zeppeline befüllten. Schon ab November 1914 mussten Kriegsgefangene in dem Chemiewerk arbeiten. Mit dem in Lülsdorf hergestellten Kalium-Chlorat produzierte die Rüstungsindustrie Sprengmittel.

1927 erlebte der Standort den ersten Besitzerwechsel, dem zahlreiche weitere folgen sollten. Erst kaufte ein englischer Papierhersteller das Werk. Er nutzte das dort produzierte Chlor als Bleichmittel. Drei Jahre später übernahm der deutsche Papierhersteller Feldmühle die Fabrik. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges lieferte "die Feldmühle" mehr Chemikalien an die Rüstungsindustrie als an die konzerneigenen Papierwerke. Die Arbeitsbedingungen waren in Kriegszeiten schlecht: Planen sollten das Werk verdunkeln und damit vor dem Feind verstecken. Dadurch entstanden lebensgefährliche giftige Gase.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs der Standort, profitierte vom Wirtschaftswunder. Später folgten aber auch deutliche Verluste. 1976 arbeiteten allein für Feldmühle - damals Teil von Dynamit Nobel - 1601 Menschen in Niederkassel. Dazu kamen die Beschäftigten der Fremdfirmen auf dem Werksgelände. Das Geschäft florierte - auch durch die Nähe zum Chemiestandort Wesseling. Seit Ende der 90er Jahre pumpte das Werk Chlor unter dem Flussbett des Rheins zu den Raffinerien an der anderen Uferseite. Doch nach der Übernahme durch die damalige Hüls AG folgten auch die ersten schmerzhaften Einschnitte. 120 Stellen wurden 1995 gestrichen, verschiedene Produktionslinien fielen der Konzernstrategie zum Opfer.

Vor rund zehn Jahren erkannte das mittlerweile mit Degussa fusionierte Unternehmen den Trend zu Biodiesel als Geschäftschance. In Lülsdorf werden bis heute chemische Vorprodukte hergestellt, die unter anderem ein Biodiesel-Produzent auf dem Firmenareal weiterverarbeitet.

Heute grenzen auf dem 1,2 Quadratkilometer großen Werksgelände stillgelegte Anlagen mit verrosteten Metallrohren an moderne Technik, zum Teil in den alten Backsteinhallen aus der Gründerzeit. Das Werk, jetzt Teil der Evonik AG (siehe Infokasten), stellt neben den Alokoholaten für Biodiesel Kaliumkarbonat her. Mit dem auch als Pottasche bekannten Stoff zieht zum Beispiel die Süßwarenindustrie Bitterstoffe aus Kakaobohnen. Für den kommenden Winter arbeiten die Chemiker in Lülsdorf an einem neuen Produkt: Als Enteisungsmittel für Flughafen-Rollbahnen will Evonik eine Kalilauge auf den Markt bringen.

Das Werksgelände überragt am Rhein ein riesiger Kran, der den Vorrat von rund 5000 Tonnen Salz für die Elektrolyse von den Frachtschiffen in die Speicher schaufelt. Nur wenige Arbeiter sind auf dem weitläufigen Werksgelände zu sehen. Viele Abläufe sind automatisiert. Zwischen den Fabrikhallen liegen frisch gepflügte Äcker. Ungenutzte Flächen hat der Chemiekonzern an einen örtlichen Landwirt verpachtet. Heute wird hier kein Rhabarber mehr angebaut, sondern Rüben.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort