Brexit wirft Schatten voraus Briten simulieren Stau aus Angst vor EU-Austritt

London · Die Briten üben den Stau, weil bei einem ungeordneten EU-Austritt ein Verkehrschaos erwartet wird. Doch die Lkw-Fahrer machten nicht mit.

 „Operation Dachs“: Für einen simulierten Stau erntete die britische Regierung wegen der geringen Teilnehmerzahl Hohn und Spott. FOTO: AP

„Operation Dachs“: Für einen simulierten Stau erntete die britische Regierung wegen der geringen Teilnehmerzahl Hohn und Spott. FOTO: AP

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Als am frühen Montagmorgen die Sonne über dem Küstenort Ramsgate aufgeht, setzen sich plötzlich Dutzende Lastwagen in Bewegung. Sie hatten sich zuvor auf einem stillgelegten Flughafen-Rollfeld versammelt, nun schert ein Fahrzeug nach dem anderen aus auf die A256, die Autobahn in Richtung der Hafenstadt Dover, um dann im Stau stecken zu bleiben. Es ist ein Schauspiel – und ausgerechnet vom britischen Verkehrsministerium initiiert. Mit der sogenannten „Operation Dachs“ wollte London am Montag für den Ernstfall proben, sollte das Vereinigte Königreich am 29. März 2019 ohne Austrittsabkommen aus der EU ausscheiden.

Seit Monaten warnen Experten vor den Folgen eines chaotischen Brexit, insbesondere für die Grafschaft Kent, dem Nadelöhr für Verbindungen nach Frankreich und damit zum Kontinent. Hier liegt der wichtige Fährhafen Dover und hier befindet sich auch die Zufahrt zum Kanaltunnel. Es drohen ein Verkehrskollaps und für Unternehmen kostspielige Verzögerungen bei der Abfertigung von Lastwagen.

Wollte Verkehrsminister Chris Grayling mit der Simulation eines falschen Staus nun sowohl der eigenen Bevölkerung als auch der EU demonstrieren, dass das Land bereit für die ungeregelte Scheidung von der Gemeinschaft ist, dann darf dieser Versuch als gescheitert betrachtet werden. Anders als erhofft erschienen statt 150 Lkw nur 89, manche Beobachter sahen sogar nur 79. „Großbritannien kann nicht einmal einen künstlichen Stau in Kent organisieren, wie soll das Land erst nach dem Brexit klar kommen?“, lästerten etliche Kommentatoren. Die Opposition sprach von einer „steuerfinanzierten Farce“.

"Augenwischerei"

Als „Augenwischerei“ kritisierte zudem die Road Haulage Association, der Verband der privaten Speditionsunternehmen, die Aktion. Man könne nicht „die Realität von 6000 Trucks“ nachahmen, die bei einem No-Deal-Szenario aufgehalten würden. An Spitzentagen transportieren die Fähren neben Autos sogar bis zu 10.000 Lkw pro Tag. Die Grafschaft Kent befürchtet Chaos, würde die vereinbarte Übergangsphase wegfallen, in der sich für Unternehmen und Bürger beinahe nichts ändern soll.

Das machte zumindest ein internes Papier vor einigen Wochen öffentlich. Dass der Verkehr zum Stillstand kommt und die Autobahn zu einem einzigen Parkplatz wird, weil wegen neuer Zölle Tausende Lkw überprüft werden müssen. Dass sich der Müll auf den Straßen türmt, weil er nicht mehr abgeholt werden kann. Dass Schulkinder ihre Prüfungen verpassen, weil sie nicht rechtzeitig zum Unterricht erscheinen können. Ganz zu schweigen von der Wirtschaft auf der Insel. Fabriken sind abhängig von einer reibungslosen und vor allem zügigen Beförderung von Zulieferteilen, Supermärkte von Waren vom Kontinent.

Chips mit Shrimps-Cocktail-Geschmack

Während Premierministerin Theresa May noch immer versucht, einen ungeordneten EU-Austritt zu verhindern, schaltete sich am Montag der ehemalige Außenminister und Brexit-Wortführer Boris Johnson mit seiner Kolumne im EU-Skeptiker-Hausblatt „Telegraph“ ein: „Wenn das Volk vor die Wahl gestellt wird zu entscheiden zwischen einer vorübergehenden Knappheit an, sagen wir Käse-Zwiebel-Chips, oder der Aussicht, dass sich das Land permanent der EU unterwirft, ohne Mitspracherecht bei EU-Gesetzen, dann ist die Öffentlichkeit jetzt grimmig dazu entschlossen, sich mit Chips mit Shrimps-Cocktail-Geschmack zu begnügen, bis es wieder Käse-Zwiebel-Chips gibt.“ Er will Theresa May in der Downing Street beerben, die dieser Tage weiter für das zwischen London und Brüssel ausgehandelte Austrittsabkommen kämpft.

Aber wie bereits vor Weihnachten ist es auch im neuen Jahr unwahrscheinlich, dass die Mehrheit des Parlaments den Deal absegnet. Eine im Dezember angesetzte Abstimmung hatte May aus Angst vor einer Niederlage verschoben. Nächste Woche, entweder am 14. oder 15. Januar, sollen die Abgeordneten nun endgültig vor die Wahl gestellt werden. Doch massiver Widerstand kommt sowohl von der oppositionellen Labour-Partei als auch aus den eigenen konservativen Reihen. Für Brexit-Hardliner wie Johnson macht der Austrittsvertrag zu viele Zugeständnisse an die EU. Die Europafreunde spekulieren derweil auf ein erneutes Referendum. Oder würden den Brexit am liebsten gleich ganz abblasen.

Vorstoße in "unbekanntes Terrain"

Bei einer Ablehnung des Deals würde Großbritannien in „unbekanntes Terrain“ vorstoßen, warnte die Premierministerin am Sonntag noch einmal. Wie jedoch ihr Plan B aussieht, sollte es wirklich zu einer Niederlage kommen, darauf lieferte sie derweil keine Antwort.

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