Marius Schick: Es gibt mehrere Möglichkeiten: Man kann Ansprüche im Insolvenzverfahren gegen die Wirecard AG beziehungsweise – wenn diese nicht anerkannt werden – gegen den Insolvenzverwalter oder die einzelnen Vorstände geltend machen. In rechtlicher Hinsicht bietet das aus meiner Sicht die besten Erfolgschancen, allerdings muss man auch schauen, ob im Endeffekt Geld für den Anleger aus der Sache herausspringt. Deswegen nimmt man auch andere Anspruchsgegner ins Visier wie den Wirtschaftsprüfer von EY, es wird auch die Bafin ins Spiel gebracht, eventuell gibt es auch die Möglichkeit, Ansprüche gegen die Deutsche Börse AG in Bezug auf Fehler bei den Zulassungsverfahren durchzusetzen.
Interview mit Rechtsanwalt Marius Schick Das sind die Chancen von Kleinanlegern im Fall Wirecard
Bonn · Der Bilanzskandal beim Zahlungsdienstleister Wirecard hält nicht nur die Behörden in Atem, sondern trifft auch Kleinanleger. Marius Schick, Bonner Rechtsanwalt für Bank- und Kapitalmarktrecht weiß, in welchen Fällen Klagen von Kleinanlegern Aussicht auf Erfolg haben.
Welche Rechtswege stehen Kleinanlegern im Fall von Wirecard AG offen? Der Konzern hat Insolvenz angemeldet und die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Betrugsverdachts.
Ist der Fall von Kleinanlegern anders als der von Großinvestoren?
Schick: Die Anspruchsgrundlagen sind die gleichen, der Unterschied ist ganz einfach, dass die größeren Investoren sich aufgrund ihrer Kapitaldecke mehrere Versuche erlauben können und die Gerichtsprozesse eher finanziell tragen können, als es der Kleinanleger könnte. Der muss sich schon überlegen, gegen wen es losgeht.
Gibt es Rechtschutzversicherungen, die das decken?
Schick: Die Rechtsschutzversicherer versuchen seit Jahren, die Eintrittspflicht für Fälle auf dem Kapitalmarkt zu begrenzen, indem sie die Allgemeinen Geschäftsbedingungen ändern. Ob das im Einzelfall erfolgreich geschieht oder ob der Bundesgerichtshof bestimmte AGBs für unwirksam erklärt, ist immer eine Frage des Einzelfalls.
Welche Chancen gibt es gegenüber Vorständen und Aufsichtsräten?
Schick: Nach Paragraf 117 Aktiengesetz können Vorstände im Außenverhältnis persönlich in Haftung genommen werden, wenn sie vorsätzlich einen Schaden für die Gesellschaft herbeigeführt haben. Daneben gibt es Anspruchsgrundlagen aus der Prospekthaftung und der sittenwidrigen Schädigung. Es liegt im Fall von Wirecard AG nahe, von falschen Kapitalmarktinformationen auszugehen, konkret falschen Ad-hoc-Mitteilungen, etwa nachdem die KPMG ihr Sondergutachten im April erstellt hatte und der Vorstand mitteilte, alles sei in Ordnung. Der Vorstand hat einen Ermessensspielraum, aber wenn der zu weit ausgedehnt worden ist und tatsächlich eine Falschmeldung vorlag, gibt es die Möglichkeit, Schadenersatzansprüche geltend zu machen.
Und wenn gerichtlich der Betrugsverdacht bestätigt wird, wie sieht es dann für Kläger aus?
Schick: Dann sind wir im strafrechtlichen Bereich, wo eine Schadenersatzforderung umso mehr gegeben ist.
Wann sollte man als Kleinanleger auf Entschädigung klagen?
Schick: Man muss nicht das Ende des Strafverfahrens abwarten, man kann schon vorher eine zivilrechtliche Klage einreichen, das geschieht auch schon. Der Vorteil des Strafverfahrens ist, dass auch der Zivilkläger daraus Honig saugen kann. Denn die Staatsanwaltschaft kann ganz andere Beweismittel sammeln als der Zivilkläger. Man kann auch Akteneinsicht in die staatsanwaltlichen Ermittlungsakten verlangen. Wann man die aber bekommt, ist bei solchen Großverfahren immer die Frage. Ob die Beweismittel dann auch im zivilrechtlichen Verfahren zugelassen werden, muss zudem gesondert geprüft werden.
Wir sprechen in beiden Fällen von jahrelangen Verfahren.
Schick: Das ist richtig. Es ist immer eine Abwägungsfrage, wann man die zivilrechtliche Klage einreicht: Kommt sie zu früh, sind noch nicht alle Beweismittel vorhanden und bewertet, kommt sie später, kann eventuell keine Vermögensmasse mehr bei dem Verklagten für eine Entschädigung vorhanden sein.
Können geschädigte Anleger auch die Aufsichtsräte verklagen?
Schick: Im Grundsatz ja, wobei man berücksichtigen muss, dass der Aufsichtsrat die Kontrolle des Vorstands im Auge hat, selber aber nicht handelt. Man muss dort ein anderes Spektrum von Pflichtverletzungen prüfen. Nur wenn der Vorstand eine schwerwiegende Pflichtverletzung begeht und der Aufsichtsrat das erkennt und bewusst mitmacht, kommt ein Anspruch gegen den Aufsichtsrat in Betracht.
Wie sieht es mit der Verantwortung der Bundesfinanzaufsicht Bafin aus und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR), die in ihrem Auftrag die Wirecard AG prüfte?
Schick: Ansprüche gegen die Bafin sind aus meiner Sicht nicht so erfolgsversprechend, weil der Paragraf vier Finanzdienstleistungsaufsichtsgesetz vorsieht, dass Forderungen gegenüber der Bafin ausgeschlossen sind. Das ist auch durch den Europäischen Gerichtshof und den BGH in anderen Fällen bestätigt worden, sodass nur ein vorsätzliches Fehlverhalten der Verantwortlichen eventuell zu Haftungsansprüchen führen könnte.
Merkwürdig ist, dass die Bafin den Rechtsweg gegenüber der Financial Times beschritten hat, die seit Anfang 2019 über Unregelmäßigkeiten bei Wirecard AG berichtet hat.
Schick: Ja, das ist schon ein Punkt, wo man fragen muss, ob die Bafin den richtigen Schwerpunkt gesetzt hat. Aus aktueller Sicht ist klar, dass die Bafin nicht die Nachforschungen hätte erschweren sollen, sondern in die andere Richtung hätte tätig werden müssen – im Nachhinein, weiß man immer mehr. Aber insgesamt wurde die Angelegenheit nicht mit der erforderlichen Priorität behandelt.
Kann man darin nicht eine Pflichtverletzung durch Bafin-Chef Felix Hufeld sehen?
Schick: Die Bafin ist nicht als Aufsichtsorgan für Kreditinstitute tätig geworden, sondern als allgemeiner Wächter des Kapitalmarkts, weil es sich bei der Wirecard AG um ein börsenzugelassenes Unternehmen handelt. Dadurch wird deutlich, dass die Bafin im Grundsatz ein sehr weites Feld zu beaufsichtigen hat. Dafür benötigt sie entsprechende Ressourcen, die sie meines Erachtens nicht zur Verfügung gestellt bekommt. Die Bafin als Behörde hat außerdem mit schwerfälligen Entscheidungsprozessen zu kämpfen. Beide Aspekte hatten Einfluss auf die Fehleinschätzung der Bafin.
Die DPR ist privatrechtlich organisiert. Im Internet steht, sie habe 15 Mitglieder. Einer davon hat die Wirecard AG bereits seit 19 Monaten im Auftrag der Bafin geprüft, war also noch nicht fertig. Ist dort etwas zu holen für geschädigte Anleger?
Schick: Zunächst einmal kann nur der Vertragspartner Ansprüche geltend machen, in diesem Fall also die Bafin. In einem nächsten Schritt muss man überlegen, ob auch andere, also die Anleger, in den Einflussbereich dieses Vertrags kommen, um ihren Schaden geltend machen können. Da gibt es zum Beispiel. die Rechtsinstitution des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, aber das sind Voraussetzungen, die genau geprüft werden müssen.
Welche Chancen sehen Sie, gegenüber den Wirtschaftsprüfern von EY, Ansprüche geltend zu machen?
Schick: Diesen Anspruchsgegner würde ich auch in den Fokus ziehen. Das Problem liegt in rechtlicher Natur. Die Wirecard AG ist der Vertragspartner von EY, sie gibt den Auftrag. Wenn jetzt Fehler passieren, kann erstmals nur die Wirecard AG Forderungen geltend machen, wenn bei ihr ein Schaden entstanden ist. Das heißt aber nicht, dass es gar keine Möglichkeiten für Aktionäre gibt. Es gibt ein aktuelles Urteil des BGH. Grundtenor ist, wenn die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft etwas ganz gravierend falsch gemacht hat, dann gibt es die Möglichkeit, deliktische Ansprüche geltend zu machen, das ist einmal der Vorwurf der sittenwidrigen Schädigung, Paragraf 826 BGB.
Die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger hat bereits Anzeige gegen EY-Prüfer erstattet. Sie äußern den Verdacht, dass mit Vorsatz gehandelt worden sei.
Schick: Erste Aufgabe der Prüfer ist nicht zu überprüfen, ob die Unterlagen echt sind. Sie müssen sich erst einmal darauf verlassen können, dass sie richtig sind. Wenn dann an anderen Stellen festgestellt wird, das kann so nicht stimmen, dann müssten die Testate mit entsprechenden Vermerken versehen werden. Die große Frage ist, ob das hier der Fall ist oder nicht. Wenn da etwas vorsätzlich geschehen ist, kann man diese Pflichtverletzungen in jedem Fall zugunsten der Aktionäre geltend machen.
In welcher Form sollten Kleinanleger ihre Ansprüche geltend machen? Es gibt das Kapitalanleger-Musterverfahren und neuerdings auch die Musterfeststellungsklage.
Schick: Beide Verfahren mit ihren Vor- und Nachteilen darzustellen, würde, glaube ich, den Rahmen sprengen. Man kann aber so viel sagen, dass die Klage nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz – so wie die Musterfeststellungsklage – viel mehr Zeit als üblich in Anspruch nehmen wird und am Ende des Klageverfahrens unmittelbar kein Zahlungsanspruch besteht. Wir präferieren daher die Individualklage.
Zu welchem Zeitpunkt sollten Anleger klagen? Nach drei Jahren sind die Ansprüche verjährt.
Schick: Das ist zunächst grundsätzlich richtig, wobei aber eine individuelle Prüfung ratsam ist. Es gibt verschiedene Möglichkeiten noch etwas mehr Zeit als drei Jahre herauszuschlagen, aber im Prinzip sollte sich der Aktionär daran orientieren. Den richtigen Zeitpunkt kann man nicht vorhersagen. Wie im Zusammenhang mit dem Strafverfahren schon erläutert, gibt es verschiedene Umstände, die man berücksichtigen sollte. Welcher Umstand aber dann am Ende der entscheidende sein wird, lässt sich nicht vorhersehen.
Woher kommt das Geld bei einer Entschädigung: aus der Haftpflichtversicherung oder dem Privatvermögen der Manager?
Schick: Beides. Die Vorstände werden voraussichtlich eine D&O-Versicherung, also eine Berufshaftpflichtversicherung, abgeschlossen haben. Die Höhe ist nicht bekannt. Das Problem bei diesen Versicherungen ist, dass diese in der Regel nicht greifen, wenn strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, weil es Ausschlussklauseln gibt. Das Privatvermögen steht zur Verfügung, wenn man eine erfolgreiche Klage geführt hat. Die Frage ist, wie viel von dem Privatvermögen noch da ist. Was kann zu diesem Zeitpunkt nachgewiesen werden, was noch da ist, veräußert oder verschenkt wurde. Da kommen Themen des Insolvenzrechts zur Geltung und die Voraussetzungen des Anfechtungsgesetzes werden relevant. Im Insolvenzverfahren sind übrigens bei der sogenannten Restschuldbefreiung der Vorstände deliktische Ansprüche ausgeschlossen, sodass festgestellte Forderungen noch 30 Jahre geltend gemacht werden können.
Das alles lässt eine Entschädigungsklage für Kleinanleger ziemlich aussichtslos erscheinen!
Schick: Ja, mit aussichtslos ist das so eine Sache – wenn man eins sagen kann, dann ist es, dass es bei solchen Verfahren immer Überraschungen gibt – sowohl was den tatsächlichen Geschehensablauf als auch die rechtliche Entwicklung bei den Gerichten anbelangt. Mit dem Wirtschaftsprüfer hätte man beispielsweise einen Anspruchsgegner, der über eine gewisse Haftungsmasse verfügt.