Notfallplan der Kommission Die EU-Agrarpolitik geht in den Krisenmodus

Brüssel · Als Folge des Krieges gegen die Ukraine verwendet Putin auch Weizen als Waffe. Doch nicht nur dem angegriffenen Land droht eine extreme Lebensmittelkrise. Auch in der EU gerät die Landwirtschaft in eine Schieflage. Ein Notfallplan soll helfen.

 Weizenernte nahe des russischen Dorfes Tbilisskaya im Sommer vergangenen Jahres.

Weizenernte nahe des russischen Dorfes Tbilisskaya im Sommer vergangenen Jahres.

Foto: dpa/Vitaly Timkiv

Bunt blühende Streifen am Rand der Felder werden in Europa in nächster Zeit wieder verschwinden: Die EU-Kommission hat am Mittwoch in Brüssel einen Notfallplan vorgelegt, um die Kriegsfolgen für Landwirte und Verbraucher in Grenzen zu halten. Denn viele Millionen Tonnen Getreide werden schon in diesem Jahr fehlen, weil die russischen Streitkräfte die Silos in der Ukraine, der viel zitierten Kornkammer Europas, blockieren oder zerstören. Russland selbst liefert nur noch an Staaten, die seinen Kriegskurs unterstützen oder zumindest nichts dagegen haben. Das hat gravierende Folgen für die Ernährungssituation der Welt, die zu fast einem Drittel von den Exporten der beiden Länder abhängt.

Die Pläne der Kommission bestehen aus zwei Hauptpunkten: Geld für Agrarbetriebe und Zusatzflächen für den Anbau. Eine halbe Milliarde Euro kommt von der EU selbst und wird nach den bewährten Verfahren auf die Bauern in den Mitgliedsländern verteilt. Zugleich will die EU-Kommission keine Bedenken gegen weitere nationale Unterstützung äußern. Die üblichen wettbewerbsrechtlichen Hürden werden dafür vorläufig verkleinert. So können die Mitgliedsstaaten künftig selbst entscheiden, ob sie durch Zuwendungen oder durch steuerliche Entlastungen die Agrarbetriebe zusätzlich dafür entschädigen, dass sie immense Zusatzkosten beim Diesel für die Traktoren, beim Kauf von Futter- und Düngemitteln oder bei Gas und Strom haben.

„Wir müssen die wirtschaftlichen Auswirkungen dieses Krieges abfedern und stark betroffene Unternehmen und Branchen unterstützen“, sagte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Danach sollen die Betriebe mit bis zu 35.000 Euro entlastet werden – in welcher Form auch immer. Staatliche Garantien oder zinsverbilligte Darlehen sollen zudem garantieren, dass sich Agrarbetriebe trotz Krise weiter Geld leihen können. Der zweite Aspekt gilt jenen vier Prozent der vormaligen Ackerflächen, die „ökologischen Vorrang“ genießen. Sie sind der herkömmlichen Bewirtschaftung entzogen, sollen der Artenvielfalt dienen und ihren Teil zum Erreichen der Klimaschutzziele beitragen. Sie dürfen nach dem Plan der Kommission kurzfristig wieder bewirtschaftet werden, und zwar vorrangig mit Soja und Mais, um den Ausfall der Ukraine als Futtermittellieferant auszugleichen. Daneben sicherte die Kommission zusätzliche Unterstützung auch Ländern außerhalb der EU zu. In erster Linie soll die Ukraine selbst in die Lage versetzt werden, trotz des Krieges und der Zerstörungen, die er mit sich bringt, so schnell wie möglich zur Selbstversorgung zurückkehren zu können. Nach Kenntnissen der Kommission sind zwar die Weizensamen bereits vor dem russischen Überfall eingesät worden, Mais und Sonnenblumen müssten in den nächsten Wochen folgen. Es fehlten aber Dünger und vor allem Arbeitskräfte, um die Felder beschicken, versorgen und abernten zu können.

Zugleich kündigte die Kommission an, die am ärgsten betroffenen Entwicklungsländer mit zusätzlichen Geldern für den Ankauf von stark verteuertem Getreide auszustatten. Bis 2024 sollen 2,5 Milliarden Euro in die Ernährungshilfe fließen. Viele Länder Afrikas und der arabischen Staatenwelt sind in hohem Maße von Nahrungsmitteln aus der Ukraine und aus Russland abhängig. Ernährungsexperten befürchten, dass die Zahl der Hungernden in der Folge des Krieges auf Hundert Millionen steigen könnte.

Gemischte Reaktionen auf den Notfallplan

Die Reaktionen auf den Notfallplan der Kommission gingen am Mittwoch weit auseinander: Der Vorsitzende des EU-Agrarausschusses, Norbert Lins (CDU) sprach von einem „richtigen Signal“. Viele der Forderungen von CDU und CSU fänden sich in den Kommissionsvorschlägen wieder wie etwa die Freigabe Ökologischer Vorrangflächen für den Anbau. Die EU müsse jedoch noch weiter gehen und etwa die Stilllegungsverpflichtungen bis einschließlich des nächsten Jahres aussetzen. „Zudem brauchen wir eine vorübergehende Erlaubnis für den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf den Vorrangflächen“, fügte Lins hinzu.

Dagegen empfand der Grünen-Agrarexperte Martin Häusling das Paket der Kommission als „mehr lobbygetrieben als von Vernunft getragen“. Er verwies darauf, dass die EU zu 112 Prozent Selbstversorger sei, also mehr Getreide exportiere als sie importiere. Vor diesem Hintergrund sei es völlig unnötig, die letzten Rückzugsflächen für gefährdete Arten „wieder einer intensiven Düngung und chemischen Behandlung auszusetzen“. Als „unfassbar“ bezeichnete Häusling, dass die Kommission die Hilfsgelder auch in die energiefressende und klimaschädliche Produktion von Mineraldüngern stecken wolle.

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