150 Jahre Flächentarifvertrag Die Verlässlichkeit des Vertrags

Berlin · Der zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden vereinbarte Flächentarif ist eine tolle Sache – das wird man bei der Feierstunde am Dienstag zum 150. Jubiläum hören. Darüber, was zu seiner Stärkung zu tun sei, gehen die Meinungen auseinander.

 Vor 150 Jahren waren Buchdrucker in Leipzig ihrer Zeit weit voraus: Sie einigten sich auf den ersten Flächentarifvertrag in Deutschland.

Vor 150 Jahren waren Buchdrucker in Leipzig ihrer Zeit weit voraus: Sie einigten sich auf den ersten Flächentarifvertrag in Deutschland.

Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Gerade wird hierzulande viel gestreikt. Beschäftigte der Bahn, von Kinderstagesstätten, Krankenhäusern, das Flughafenpersonal und weitere Berufsgruppen gingen auf die Straßen oder wollen es noch tun, um Druck für bessere Tarifverträge zu machen. Man könnte den Eindruck haben, das ganze Land hat irgendeinen Tarifvertrag. Aber das ist ein Trugschluss. Tatsächlich kommt nur noch eine Minderheit der Beschäftigten in den Genuss dieser Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden. Und das, obwohl die Flächentarifverträge oft gerühmte Beispiele der sozialen Marktwirtschaft darstellen, der Deutschland einen guten Teil seines Wohlstandes und auch der relativen sozialen Ruhe verdankt.

Der lobenden Worte wird es viele geben, wenn an diesem Dienstagabend die Spitzen der Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften ein Jubiläum begehen: Vor 150 Jahren – im Mai 1873, es regierte Kaiser Wilhelm I. – einigten sich die Organisation der Drucker und der Verband der Druckereibesitzer auf eine Vereinbarung, die größere Teile der Branche abdeckte, Tausende Beschäftigte, über 100 Firmen. Sie gilt als der erste Flächentarifvertrag Deutschlands.

Tarifbindung nimmt bundesweit ab

Kapital und Arbeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer erkannten damals eine Regelung an, die nicht nur Individuen, einzelne Firmen oder Städte, sondern tendenziell einen ganzen Wirtschaftszweig erfasste. Zusammen setzten die Beschäftigten mit Hilfe ihrer Gewerkschaften zum Beispiel höhere Bezahlung für alle Mitglieder durch, während die Fabrikbesitzer wussten, dass sie von den anderen Unternehmen nicht mit billigeren Löhnen unterboten wurden. Ein kollektiver Kompromiss schuf eine gewisse Verlässlichkeit für beide Seiten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stellten kollektive Vereinbarungen das Mehrheitsmodell dar – in der sozialistischen DDR sowieso, aber auch in der Bundesrepublik. Seit einigen Jahrzehnten allerdings nimmt die Tarifbindung bundesweit ab. Nur noch für 45 Prozent der Beschäftigten in den westdeutschen Bundesländern galt 2021 ein Flächentarifvertrag, für 34 Prozent in Ostdeutschland. 1996 waren es 70 Prozent und 56 Prozent. So berichtete es das Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg.

Aus der Sicht der Betriebe betrachtet, unterliegt momentan ein Viertel der Unternehmen einem Tarifvertrag, für drei Viertel gilt das nicht. In den Bundesländern verläuft der langfristige Trend ähnlich. Wobei sich der Befund etwas relativiert, wenn man auf die indirekte Tarifbindung blickt. Laut IAB orientiert sich bundesweit etwa die Hälfte der tariflosen Firmen zumindest an einem Tarifvertrag – sie übernehmen freiwillig beispielsweise einzelne Regelungen. Die direkte und indirekte Tarifbindung summiert sich bei den Betrieben dann doch auf 60 Prozent.

Warum ist das so? Wahrscheinlich hat einiges mit dem Zeitgeist des Neoliberalismus zu tun, der das Land seit den 1980er Jahren durchwehte. Viele Unternehmer dachten, sie kämen alleine besser zurecht als mit Unterstützung eines Verbandes. Zudem traten neue Firmenmodelle auf den Plan – etwa der Taxi-Konkurrent und Fahrdienstvermittler Uber. Statt angestellter Fahrerinnen und Fahrer erledigen dort selbstständige Einzelunternehmer die Arbeit. Bei den Beschäftigten machte sich ebenfalls die Individualisierung bemerkbar: Gewerkschaften galten oft als altmodisch, sie verloren massiv an Mitgliedern.

Auch deshalb ist nun eine neue, grundsätzliche Auseinandersetzung über die Flächentarifverträge im Gange. Viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter fordern Hilfe der Politik, damit nicht noch mehr Beschäftigte aus dem Schutz kollektiver Regelungen herausfallen. Die SPD ist eher bereit, dem nachzukommen als Union und FDP. So wurde im Zuge der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung auf Bundesebene der gesetzliche Mindestlohn als Untergrenze eingeführt, da die Tarifverträge diese Wirkung gesamtgesellschaftlich nicht mehr entfalten konnten. Und nun geht es um die sogenannten Tariftreuegesetze.

Mit diesem Instrument können Bundesländer oder auch der Bund regeln, dass Unternehmen, ob sie wollen oder nicht, den Tarifvertrag ihrer Branche einhalten müssen, wenn sie sich öffentliche Aufträge bewerben. Es handelt sich um eine politische Krücke, um den reduzierten Einfluss der Gewerkschaften wieder etwas aufzumöbeln. Thüringen, Berlin und das Saarland haben ähnliche Gesetze schon beschlossen. Entwürfe und Vorbereitungen dafür gibt es in weiteren Bundesländern, darunter Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Sachsen.

Auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung aus SPD, Grünen und FDP auf Bundesebene steht das Vorhaben. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat den Gesetzentwurf bis zu dieser Sommerpause, also Anfang Juli, angekündigt. Yasmin Fahimi, einst SPD-Generalsekretärin, nun Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, unterstützt das. Der Präsident der Arbeitgeber, Rainer Dulger, ist dagegen. Bei der Feierstunde am Dienstag werden beide sich grundsätzlich für Flächentarifverträge aussprechen. Darüber, was konkret zu tun ist, gehen die Meinungen auseinander.

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