Sterben der Fabriken Frankreich fürchtet sich vor De-Industrialisierung

Paris · Immer mehr Unternehmen in Frankreich schließen ihre Standorte. Grund ist in den meisten Fällen aber nicht die Corona-Krise. Die französische Wirtschaft ist beunruhigt.

 Das Werk von Renault in Boulogne-Billancourt.

Das Werk von Renault in Boulogne-Billancourt.

Foto: dpa/Christophe Ena

Die Trinkgläser von Duralex sind besonders bei Eltern kleiner Kinder beliebt. Der Grund: sie sind praktisch unkaputtbar. Auch die Besitzer von Kantinen und Bistros in Frankreich setzen auf die widerstandsfähigen Gläser. Gefertigt werden sie in La Chapelle-Saint-Mesmin, einem kleinen Städtchen in der Nähe von Orléans. Doch damit könnte bald Schluss sein, denn die Traditionsfirma mit 250 Angestellten steht vor dem Konkurs, zu unrentabel ist die Produktion geworden.

Das drohende Ende des kleinen Unternehmens sorgt im Wirtschaftsministerium in Paris für große Unruhe, denn es ist nicht die erste schlechte Nachricht in sehr schwierigen Zeiten. Erst vor einigen Tagen hat Bridgestone bekanntgegeben, dass es sein Reifenwerk im Nordfranzösischen Béthune schließen will. Über 800 Arbeitsplätze stehen in der strukturschwachen Region auf dem Spiel. Bereits im Mai hat der krisengeplagte Konzern Renault das Aus für sein Werk in Choisy-le-Roi bei Paris beschlossen.

Beobachter sind beunruhigt

Viele Beobachter sind beunruhigt, manche warnen vor einer drohenden De-Industrialisierung Frankreichs, die durch den Corona-Schock noch beschleunigt werden könnte. Zu sehr habe man auf den Dienstleistungssektor gesetzt und das produzierende Gewerbe vernachlässigt. Immer wieder wird mit Neid in Richtung Deutschland geblickt, wo die Industriequote nach Angaben der Weltbank über 20 Prozent liegt, während für Frankreich nur knapp zehn Prozent angegeben werden.

Diese Werte kennt natürlich auch die französische Regierung, weshalb das jüngst angekündigten Corona-Maßnahmenpaket in Höhe von insgesamt 100-Milliarden-Euro vor allem auf die Stärkung der produzierenden Industrie abzielt. „Dies ist ein Plan der industriellen Wiederbewaffnung Frankreichs, dafür geben wir 35 Milliarden Euro aus“, erklärte der Regierungschef Jean Castex martialisch bei der Präsentation des Corona-Pakets Anfang September. Das soll auch der bereits im Jahr 2017 ausgerufene Modernisierungsstrategie der heimischen Industrie frischen Wind bringen.

Unter anderem werden für Unternehmen, die in Zukunftsbereichen investieren wollen, die Produktionssteuern gesenkt. Die sind eine französische Spezialität, liegen laut OECD deutlich höher als in anderen hochentwickelten Ländern und gelten als eine der Ursachen für die relative Schwäche der französischen Industrie. Zudem wird die Förderung der Batterieproduktion für E-Autos ausgebaut oder der Einstieg in die grüne Wasserstofftechnologie unterstützt.

Maßnahmen entfalten Wirkung erst langfristig

Viele Maßnahmen werden allerdings erst langfristig ihre Wirkung entfalten. Und sie werden den Niedergang mancher Traditionsfirmen in Frankreich nicht stoppen, denn das Land plagen strukturelle Probleme, die sich über Jahrzehnte entwickelt haben. So sind etwa die Unternehmen oft zu klein, haben nur geringe Forschungsetats und sind weniger produktiv als die Konkurrenz. Zudem produzieren die französischen Firmen oft technologisch eher wenig anspruchsvolle Güter, die im scharfen globalen Preiswettbewerb stehen – und haben dabei oft das Nachsehen gegenüber den billigeren Produkten aus Asien.

In diesem Sinne ist die Schließung des Bridgestone-Werkes in Béthune die Konsequenz einer langen Entwicklung. Die Reifenhersteller kämpfen in Europa schon lange mit schwierigen Absatzmärkten. Das vergangene Jahrzehnt war in Frankreich geprägt von Standortschließungen: Continental 2009 in Oise, Goodyear 2014 in Amiens und Michelin vergangenes Jahr in Vendée. Gleichzeitig wurde in Béthune verpasst, die notwendigen Investitionen zu tätigen, um neue High-End-Produkte zu entwickeln, die rentabler sind als die derzeit hergestellten Reifen. Die aktuell durch Corona bedingte Absatzkrise der Reifenhersteller, war dann der Auslöser, das im Vergleich zur Konkurrenz unproduktive Werk zu schließen.

Präsident Emmanuel Macron hat diese strukturellen Schwächen erkannt und seinem Land unmittelbar nach Amtsantritt einen rigiden Modernisierungsprozess verordnet. Dabei hat er nach herrschender Lehre alles richtiggemacht. Er hat die Kündigungen vereinfacht, die Gewerkschaften entmachtet und den Druck auf Arbeitslose erhöht. In einer Studie des Beratungsunternehmens Ernst&Young zur Attraktivität der Standorte in Europa, landet Frankreich inzwischen auf Platz zwei, knapp hinter Großbritannien – und vor Deutschland. Besonders positiv schlägt in der Bewertung zu Buche, dass zuletzt vor allem zukunftsträchtige Firmen, die im Bereich Forschung und Entwicklung investieren, mit allerlei finanziellen Anreizen und rechtlichen Lockerungen angelockt wurden.

Von den Wissenschaftlern bekommt der Präsident also Bestnoten, das Volk sieht sein Wirken aus einer ganz anderen Perspektive. Die von Macron gepriesene Globalisierung sehen viele Franzosen als Bedrohung für ihre Arbeitsplätze – die drohenden Werkschließungen in Béthune und der Duralex-Fabrik in La Chapelle-Saint-Mesmin bestätigen ihre Befürchtungen. Offensichtlich wird, dass der Präsident vergessen hat, auf dem Weg der Reformen sein Volk mitzunehmen. Wie hoch der Preis für dieses Versäumnis ist, wird sich im Frühjahr 2022 zeigen, wenn Emmanuel Macron für eine zweite Amtszeit gewählt werden will.

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