"Cum-Ex-Files" Milliarden-Verluste durch Rekord-Steuerraub

Frankfurt · Das Ausmaß des organisierten Steuerbetrugs durch Cum-Ex-Aktiengeschäfte ist weit größer als bislang angenommen. Auch Deutschland war betroffen.

Die „Cum-Ex-Files“ lesen sich wie ein Krimi. Und sie beginnen auch so: „Sie haben die Suite auf 18 Grad heruntergekühlt. Jede Schweißperle auf der Stirn wäre verräterisch. Sie dürfen nicht nervös wirken.“ Es ist der Beginn einer langen Geschichte; das Ergebnis einer intensiven Recherche. Es ist die Story des bisher größten Steuerraubs aller Zeiten.

Das europäische Recherchezentrum „Correctiv“ hat gestern die Ergebnisse der groß angelegten Recherche veröffentlicht – die „Cum-Ex-Files“. 37 Journalisten von 19 Medien aus 12 Ländern Europas haben daran mitgewirkt. Ergebnis: Durch dubiose Aktiengeschäfte haben neben Deutschland mindestens zehn weitere europäische Länder Milliardensummen verloren: Frankreich, Spanien, Italien, die Niederlande, Dänemark, Belgien, Österreich, Finnland, Norwegen und die Schweiz. Spitzenreiter der geschädigten Länder ist mit Abstand Deutschland, es folgen Frankreich mit mindestens 17 Milliarden Euro, Italien mit 4,5 Milliarden und Dänemark mit 1,7 Milliarden Euro Schadenssumme. „Es handelt sich um den größten Steuerraub der Geschichte Europas“, sagt Christoph Spengel, Steuerprofessor von der Universität Mannheim.

Spengel hat errechnet, dass der hiesige Fiskus knapp 32 Milliarden Euro für Cum-Ex-Geschäfte zu Unrecht an die Geschäftemacher überwiesen hat – allein in den Jahren zwischen 2001 und 2016. Europaweit, schätzt der Rechercheverbund, liege der Schaden bei über 55 Milliarden Euro. Nimmt man die Cum-Cum-Geschäfte hinzu, steigt die Summe noch einmal beträchtlich.

Mehrfache Steuerrückerstattung

Mit Cum-Ex werden Geschäfte bezeichnet, die um den Stichtag der Dividendenzahlungen von Börsenunternehmen stattfinden. Ziel ist es, sich mithilfe von Banken mehrfach Steuern rückerstatten zu lassen. „Cum“ bezeichnet dabei die Aktien mit Dividendenanspruch, „Ex“ die Papiere ohne. Einfach vorstellen kann man sich das Prinzip, wenn man sich überlegt, wie man hierzulande – theoretisch – Kindergeld ergaunern könnte: Bei Cum-Cum-Geschäften würde ein Deutscher ausländische Kinder kurzerhand als Familienmitglied „anmelden“, um so Kindergeld zu kassieren. Danach würde man sie wieder zurückschicken. Bei Cum-Ex-Geschäften würde die Anmeldung der Kinder gleich in mehreren Familien vorgenommen.

Ähnlich der Fall bei Aktien: Die Kapitalertragssteuer muss man einmal bezahlen. Wenn man es aber schafft, sie zweimal oder mehrmals zurückzufordern, kann man Vermögen machen. Dabei haben die Papiere mit und ohne Ausschüttungsanspruch teils mehrmals in rascher Folge den Besitzer gewechselt, sodass dem Fiskus nicht mehr klar war, wem sie letztlich gehörten und er mehrmals die Steuer rückerstattete.

Warnte Deutschland zu spät?

In Deutschland ist diese Praxis seit 2012 nicht mehr möglich, da wurde das Steuerschlupfloch geschlossen. Laut „Correctiv“ soll Deutschland die anderen europäischen Länder aber erst 2015 vor den Umgehungsgeschäften gewarnt haben. Das Bundesfinanzministerium betonte hierzu auf Anfrage dieser Zeitung, man habe sehr wohl „in der Vergangenheit diverse Staaten, auch auf deren Nachfrage hin, über die Verfahrensweise bei Cum-Ex-Geschäften informiert“.

Die Grünen forderten umgehende Aufklärung von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD). Wenn auch nach 2012 weiter betrogen werden konnte, „dann wäre das ein ungeheuerliches Versagen und eine bodenlose Blamage für die deutsche Finanzpolitik“, sagte Grünen-Fraktionsvorsitzender Anton Hofreiter.

Während die Ausmaße des Raubzuges langsam erkennbar werden, ist bis heute in letzter Instanz noch nicht geklärt, ob die dubiosen Geschäfte wirklich illegal waren. Lange hatten Steuerexperten die Geschäfte als legale Steuertricks betrachtet. Heute gehen aber die meisten Beobachter davon aus, dass sie illegal waren und sind.

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