Tag der Arbeit Was Gewerkschaften heute noch zu sagen haben

Düsseldorf · Der Wirtschaft geht es blendend. Das befeuert einen für die Arbeitnehmervertretungen gefährlichen Trend. 20 500 Menschen weniger hatten einen Gewerkschaftsausweis als im Vorjahr.

 Eine Teilnehmerin einer Kundgebung der Gewerkschaft IG Metall.

Eine Teilnehmerin einer Kundgebung der Gewerkschaft IG Metall.

Foto: picture alliance / Daniel Karman

Für die Gewerkschafter ist der Tag der Arbeit höchster Feiertag. Doch wie viel Grund zum Feiern haben die Gewerkschaften heute überhaupt? Die nackten Zahlen offenbaren eine Organisationskrise: Von knapp zehn Millionen Mitgliedern 1994 sind noch knapp sechs Millionen übrig. Das bleibt nicht folgenlos. Nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit wurden 2017 in Westdeutschland nur noch 57 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt, im Osten 44 Prozent. 1998 hatten beide Werte noch je 19 Prozentpunkte höher gelegen. Arbeitgeber verlassen reihenweise die Arbeitgeberverbände oder flüchten sich in sogenannte OT-Mitgliedschaften: „ohne Tarifbindung“.

Gleichzeitig ist die Lage am Arbeitsmarkt so gut wie nie – im April ist die Zahl der Arbeitslosen erneut gesunken, auf 2,229 Millionen oder 4,9 Prozent: den niedrigsten Aprilwert seit der Wiedervereinigung. Warum, dürfte sich deshalb so mancher Beschäftigte fragen, sollte er angesichts des fehlenden Bedrohungspotenzials ein Prozent des monatlichen Bruttolohns an eine Gewerkschaft abdrücken? Es reicht ja, wenn die restliche Belegschaft in der Gewerkschaft bleibt. Trittbrettfahrerproblem nennt sich das.

Hier der Boom, dort die Krise?

Wird der Boom zur Krise für die Gewerkschaften? Stimmt so nicht, sagt zumindest Anja Weber, NRW-Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB): „Wir haben im Erwerbstätigenbereich gute Mitgliederentwicklungen.“ Diese Einschränkung ist notwendig, denn auch der DGB musste 2018 Federn lassen: 20 500 Menschen weniger hatten einen Gewerkschaftsausweis als im Vorjahr.

Hagen Lesch, Gewerkschaftsexperte des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, sieht sehr wohl einen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Lage und der Mitgliederentwicklung: „Arbeitnehmer sind in einer deutlich komfortableren Position, womit der Bedarf an kollektiver Vertretung durch Gewerkschaften zunächst einmal sinkt“, sagt er. Unternehmen, die ein Interesse an den Fachkräften hätten, seien eher bereit, Knappheitsprämien zu zahlen. „Allerdings“, schränkt er ein, „gilt dies nicht für alle Branchen und Berufsgruppen: Nehmen Sie die Systemgastronomie oder Zusteller.“ Doch auch dort falle den Gewerkschaften die Organisation extrem schwer, was allerdings andere Gründe habe: „Dezentrale Betriebe, kleine Unternehmen, Belegschaften mit hohem Migrantenanteil – all dies erschwert die Mitgliederwerbung“, sagt Lesch.

Doch was tun? Die Gewerkschaften, die sonst die staatliche Einmischung scheuen wie der Teufel das Weihwasser, sind inzwischen viel eher bereit, Hilfe vom Staat zu akzeptieren. „Viele Unternehmen der neuen digitalen Wirtschaft – Deliveroo zum Beispiel, aber auch Amazon – sagen bewusst, dass sie keine Tarifverträge wollen“, sagt DGB-Chefin Weber. „Da brauchen wir eine härtere Haltung der Politik. Wenn wir etwa über Wirtschaftsförderung reden, dann kann man zumindest auch mal nachfragen, welcher Tarifvertrag denn zur Anwendung kommen soll.“ Fördermittel nur gegen Tarifvertrag, so die Logik.

"Eingeständnis von Schwäche"

Und es gibt weitere Regelungswünsche. Da wäre die Allgemeinverbindlichkeit. Bund oder Länder haben die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen Tarifverträge für eine ganze Branche für bindend zu erklären. Eine Voraussetzung ist allerdings, dass die Tarifvertragsparteien dem zustimmen und „der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat“. „Mindestlöhne und die Forderung nach Allgemeinverbindlichkeitserklärungen sind Eingeständnisse der Schwäche von Gewerkschaften“, sagt Gewerkschaftsexperte Lesch. „Für den Organisationsgrad dürften diese Maßnahmen im Übrigen nachteilig sein. Warum sollte ich mich organisieren, wenn der Tarif so oder so angewendet wird?“

Lesch glaubt andererseits, dass die Gewerkschaften am Ende von der Tarifflucht profitieren könnten: „Wenn Unternehmen sich aus der Tarifbindung verabschieden und schlechter bezahlen, wirkt das – ganz ohne Zutun der Gewerkschaften – als Werbemaßnahme für einen Beitritt, um kollektiv mehr auszuhandeln und den Betrieb am Ende womöglich zurück in den Flächentarifvertrag zu zwingen.“ Allerdings dürfte das bei kleinen und mittleren Unternehmen deutlich schwieriger sein. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, dürfte den Führungen dort wichtiger sein als die Vorteile kollektiver Lohn- und Gehaltsverhandlungen.

Mehr Potenzial liegt aus Gewerkschaftssicht in dem Trend, die Mitglieder mehr bei der Themenfindung einzubinden. Dass sich zuletzt eine Reihe von Tarifverträgen mit dem Thema Arbeitszeit beschäftigten, ist Ausdruck dieser Entwicklung. Dabei wird deutlich, wie sehr sich die Themen ändern. Die Industrieländer-Organisation OECD legte erst jüngst Daten vor, wonach jeder fünfte Arbeitsplatz in Deutschland durch die Digitalisierung verschwinden könnte.

Ihre Mobilisierungskraft werden die Gewerkschaften am 1. Mai demonstrieren. Ganz ohne Streik. Doch kämpferisch werden sie allemal sein – Krise hin oder her.

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