Sozialauswahl steckt voller Fallstricke Welche Rolle soziale Kriterien beim Jobabbau spielen

Berlin · In Deutschland herrschen komplexe gesetzliche Regeln für den Jobabbau - auch während der Corona-Pandemie. Die Sozialauswahl steckt voller Fallstricke.

 Ein Mitarbeiter der Daimler AG in der Produktion. Der Konzern plant wie viele andere Unternehmen die Verkleinerung der Belegschaft. Das hat nicht nur mit der Corona-Krise zu tun.

Ein Mitarbeiter der Daimler AG in der Produktion. Der Konzern plant wie viele andere Unternehmen die Verkleinerung der Belegschaft. Das hat nicht nur mit der Corona-Krise zu tun.

Foto: dpa/Marijan Murat

Bei Airbus fallen allein in Deutschland vermutlich 5100 Stellen weg, bei der Commerzbank geraten derzeit gerüchteweise rund 10.000 Arbeitsplätze in Gefahr, beim Autozulieferer ZF sind es 7500. Fast täglich laufen neue Schreckensnachrichten von bevorstehenden Entlassungen über den Ticker. Fast alle Branchen sind mehr oder weniger betroffen.

Die Zahlen wirken zusammen genommen gigantisch, und noch ist trotz aller Konjunkturförderung unsicher, wann und wie die vielen freigesetzten Mitarbeiter wieder Jobs finden. Umso wichtiger ist derzeit die sozialverträgliche Gestaltung des Stellenabbaus. Experten warnen hier sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer davor, während der Ausnahmesituation die üblichen rechtlichen Regeln zu übersehen. „Die Betriebe müssen sich auch in einer Pandemie an den Kündigungsschutz halten, und betroffene Mitarbeiter können sich genauso wehren wie in einem normalen Jahr“, sagt Hans-Hermann Aldenhoff, Experte für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Simmons & Simmons in Düsseldorf.

Länger geplante Programme mit neuer Rechtfertigung

Der Stellenabbau läuft zwar überall unter dem Stichwort „Corona“, doch zum Teil handelt es sich um schon länger geplante Programme, die durch die Pandemie lediglich eine neue Rechtfertigung erhalten. Dazu gehören beispielsweise die Sparprogramme bei Daimler. Zum Teil haben die Geschäftsausfälle tatsächlich alle Pläne umgeworfen. Beste Beispiele sind hier Airbus und die Lufthansa. Andere Unternehmen, wie der Materialspezialist Nanogate aus dem Saarland, mussten wegen der Krise bereits Insolvenz anmelden.

Der Gewerkschaft Verdi zufolge gelten die Regeln des deutschen Arbeitsrechts jedoch auch bei einer Insolvenz weiter. „Außerdem muss die Sozialauswahl eingehalten werden“, betonen die Rechtsexperten der Gewerkschaft.

Für die Arbeitgeber ist die Sozialauswahl vermintes Gelände, für Arbeitnehmer stellt sie dagegen immerhin eine Chance dar, ihr Beschäftigungsverhältnis doch noch zu retten oder eine Entschädigung herauszuschlagen. Ältere Mitarbeiter dürfen eher bleiben als jüngere, und auch solche mit Kindern genießen besonderen Schutz. Die Kriterien lauten: Lebensalter, Dauer der Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und eine eventuell vorhandene Schwerbehinderung. Die Leistungsfähigkeit spielt vor dem Gesetz zunächst keine Rolle.

Auswahl erfolgt selten nach sozialen Kriterien

Die Firmen erstellen daher im Allgemeinen – am besten unter Mitwirkung des Betriebsrats – zunächst eine Liste der Mitarbeiter, die ihren Rang nach den sozialen Kriterien widerspiegelt. Dann können sie die mit geringsten Schutzbedürftigkeit zuerst entlassen.

Die Auswahl erfolgt jedoch Experten zufolge in der Praxis nur selten ausschließlich nach sozialen Kriterien. Die meisten Unternehmen wollen die Entlassungen nutzen, um das Personal zu „optimieren“, also von der Leistung her vermeintlich stärkere Mitarbeiter zu halten und schwächere zu entlassen. Geschickte Personalleiter bereiten das vor, indem sie die Vergleichsgruppen kreativ zuschneiden, so dass die Sozialauswahl danach das gewünschte Ergebnis liefert.

Viele Arbeitgeber bieten dann im nächsten Schritt denjenigen Mitarbeitern, von denen sie sich am ehesten trennen möchten, ein sehr gutes Abfindungsangebot an, um sie aus der Sozialauswahl herauszuhalten. Das Angebot falle in der Regel umso großzügiger aus, je höheren Schutz die- oder derjenige vor Entlassung genieße, sagt Aldenhoff.

Das Geschiebe führt jedoch auch dazu, dass sich Arbeitnehmer in vielen Fällen gegen ihre Entlassung wehren können. Aldenhoffs Erfahrung zufolge treten diese noch zügig in eine Gewerkschaft ein – denn Mitglieder genießen in der Regel Rechtsschutz. Eine Klage gegen die Kündigung muss innerhalb von drei Wochen erfolgen. Aus Sicht der Justiz können viele Aspekte der Kündigung angreifbar sein: Die Vergleichbarkeit der Tätigkeit innerhalb der Abteilung, die Rangliste der Sozialauswahl oder die Formalien der Kündigung. Experten raten dazu, jetzt eher eine saftige Entschädigung als Ziel zu setzen als die Wiedereinstellung.

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