Lust auf Wald Ein nationales Lebensgefühl

Wer hat dich, du schöner Wald, so ruiniert bei uns hienieden? In Deutschland ist eine Ansammlung von Bäumen mehr als nur Botanik. Ab 10. Oktober befasst sich eine Ringvorlesung der Alfterer Alanus Hochschule mit den Facetten der „Lust auf Wald“.

So schön kann der Wald aussehen, wenn alles gut läuft.

So schön kann der Wald aussehen, wenn alles gut läuft.

Foto: picture alliance/dpa/Jens Büttner

Ich ging im Walde so für mich hin, und nichts zu suchen, das war mein Sinn. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt’s zurück. O Täler weit, o Höhen, o schöner grüner Wald, du meiner Lust und Wehen andächt‘ger Aufenthalt! Die Vöglein schweigen im Walde.

Holla, die Waldfee: Dichtung und Volksmund sähen in Deutschland ganz schön alt aus, gäbe es nicht den deutschen Wald. Mit einer Ringvorlesung gehen die Alfterer Alanus Hochschule und der General-Anzeiger ihm jetzt auf den Grund; Initiatoren waren Alanus-Kommunikationschefin Dr. Julia Wedel und Studium-Generale-Leiter Professor Maurice Saß.

Vom 10. Oktober bis zum 12. Dezember (siehe Programm am Ende des Beitrags) befassen sich diverse Disziplinen unter dem Motto „Lust auf Wald“ mit diesem Phänomen, das in Deutschland nicht bloß Botanik ist, sondern nationales Lebensgefühl.

Die Bundesrepu­blik ist das waldreichste Land Mitteleuropas, verkündet der Deutsche Forstwirtschaftsrat (DFWR). Ein Drittel von ihr ist von Wald bedeckt, mit insgesamt rund 90 Milliarden Bäumen, mehr als 1000 pro Einwohner. Klingt gut.

Aber inzwischen kommt den Wanderer das große Grausen an. Viele Wälder haben sich in eine Ansammlung vertrockneter Zahnstocher verwandelt (wegen der Borkenkäfer (wegen der Dürre (wegen der Klimakatastrophe))). Und wo noch Grün ist, hausen die Wölfe.

Weil Deutschland und Wald zusammengehören, passt es dazu, wie sehr uns auch am Rest des Gemeinwesens das große Grausen packt (fehlende Flutrettungshubschrauber, kaputte Brücken, sonstiges Staatsversagen). Wir ahnen, dass irgendwas schiefgelaufen sein muss in den vergangenen Jahrzehnten. Was hat uns all das Wachstum gebracht – außer, dass wir zu Wachstums-Junkies geworden sind und nun auf kalten Entzug müssen?

Der Wald ist das Gegenteil unseres durchgenormten Lebens

Der Wald kann uns sagen (wenn wir ihm zuhören): Es geht auch anders. Zwei Jahre lang lebte zum Beispiel der Schriftsteller Henry David Thoreau (1817-62) in einer Waldhütte bei Boston und lernte dabei, dass er nicht nur keine Dauerbespaßung und keine vollgeprüllte Wohnung brauchte, sondern auch, „dass ich alle Ausgaben des Lebensunterhaltes bestreiten konnte, wenn ich jährlich etwa sechs Wochen arbeitete“. Sein Tun in den 46 restlichen Wochen: Lesen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er später das wachstumsfeindliche Buch verfasste „Über die Pflicht zum Un­gehorsam gegen den Staat“.

Wir können es Thoreau auch nachtun, ohne gleich im Wald zu wohnen. Ein ausführlicher Spaziergang reicht. Grün statt Grau, Rehe statt Autos, Blätter statt Banknoten, Heidelbeeren statt Coffee-to-go, Wege statt Straßen, Bäche statt Kanälen, Rauschen statt Gedudel.

Wald ist Romantik, weil er das Gegenteil unseres durchgenormten Lebens ist. „Wald“ und „wild“ sind im Deutschen quasi dasselbe, getrennt nur durch den Vokalwechsel zwischen a und i, die in unserem Sprachgefühl derart nah beieinanderliegen, dass sie das Mittel der Wahl für allerlei Lautmalereien sind (Schnickschnack, Tingeltangel, trari-trara).

So sieht der Wald vielerorts derzeit in Wirklichkeit aus.

So sieht der Wald vielerorts derzeit in Wirklichkeit aus.

Foto: picture alliance/dpa/Swen Pförtner

Weil wir in Deutschland sind, braucht’s für den Waldgang natürlich Regeln. Manche Helikopter-Ökologisten benehmen sich, als dürfe man den Wald nur in Begleitung eines Museumsführers betreten, der aus Amerika den Namen „Ranger“ und einen komischen Hut mitgebracht hat und achtgibt, dass keiner die Exponate berührt (außer zu Testzwecken, ob man beim Blattsortenunterscheidungs-Lernmodul auch zugehört hat). Im Walde nichts zu suchen? Nicht denkbar im Lande der Wissenskontrollen!

Ja, diese Leute meinen es gut und geben sich redlich Mühe. Aber eigentlich muss der Wald nicht erklärt werden. Er ist keine Aufgabe, sondern Lösung, dargeboten von (je nach Sichtweise) der Ökologie oder Mutter Natur oder der staatlichen Forstwirtschaft. Oder Ihm jenseits, wie Joseph von Eichendorff sagte: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben? Wohl den Meister will ich loben, solang noch mein‘ Stimm‘ erschallt.“

Im Lockdown haben es viele bemerkt: Wald ist kein Luxus, sondern Lebens-Mittel. Er ist kein Museum, sondern ein Spielplatz. „Durch die behutsame Öffnung für gesellschaftliche Interessen wie Erholung, Freizeit und Sport gewann der Wald in den Augen der Menschen an Wert“, sagt der DFWR und folgert: „Die beste Garantie für seinen Erhalt.“

Um uns dem Wald mit allen Sinnen hinzugeben, braucht es keinen Bademeister mit komischem Hut

Das weiß auch die Bayerische Staatsverfassung und gesteht in Artikel 141 zu: „Der Genuß der Naturschönheiten und die Erholung in der freien Natur, insbesondere das Betreten von Wald [...] ist jedermann gestattet.“ Viel netter als das Bundeswaldgesetz, das von bürokratischen Definitionen strotzt („Wald im Sinne dieses Gesetzes ist jede mit Forstpflanzen bestockte Grundfläche“).

Rings von Wald umgeben zu sein statt von Beton, Blech, Handymasten (und anderen Leuten), zeigt dem Menschen, dass selbst ein 1000 Meter hoher arabischer Wolkenkratzer nicht mehr ist als eben genau dies: ein kleiner Kratzer, erdacht von Profilneurotikern.

Eichendorff formulierte es so: „Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft‘ge Welt; schlag noch einmal den Bogen um mich, du grünes Zelt!“ Steigen Sie zum Beispiel mal im Siegerland auf den Turm der Ginsburg: Da sehen Sie vor lauter Wald die Bäume nicht mehr. Bis zum Horizont nichts als grünwelliger Teppich. Kein Wunder, dass im Siegerländischen das Wort „Berg“ die Bedeutung „Wald“ gleich mit übernommen hat.

Viel wird gespottet darüber, dass die Wohlfühlindustrie es heutzutage Wald-„Baden“ nennt, wenn wir dafür bezahlen sollen, einfach mal im Wald unsere Ruhe haben zu dürfen. Andererseits: Welches Wort passt besser als „baden“, wenn wir uns einer Sache mit allen Sinnen hingeben? Dafür braucht es keine/n Waldbademeister/in mit komischem Hut. Es reicht, einfach die Augen aufzumachen, den Handystöpsel aus dem Ohr und die E-Zigarette aus der Nase zu nehmen. Thoreau sagt: Auch Barfußlaufen hilft.

Wenn wir das versuchen, merken wir vielleicht, was gegen unsere Wut auf all die geschäft’gen Staatsversager helfen kann: Eigene Gedanken, allein mit (und über) uns selbst. Jenes Weniger, das Mehr ist.

Nochmals Thoreau, wie für unsere Zeit erdacht: „Den Reichtum eines Menschen misst man an den Dingen, die er entbehren kann, ohne seine gute Laune zu verlieren.“ Der Wald gehört nicht zu ihnen. Mit Eichendorff gesagt: Schirm‘ dich Gott, du schöner Wald!

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