Neurologenkongress in Bonn Gelähmten auf die Beine helfen

Bad Godesberg · 800 Neurologen diskutierten in Bad Godesberg neue Ansätze zur Rehabilitation nach Schlaganfall oder Verkehrsunfall. Dabei kam auch Philipp Keutmann zu Wort. Der 26-Jährige sitzt nach einem unbedachten Kopfsprung im Rollstuhl.

 Nach einem unbedachten Kopfsprung ins Wasser ist Philipp Keutmann querschnittsgelähmt.

Nach einem unbedachten Kopfsprung ins Wasser ist Philipp Keutmann querschnittsgelähmt.

Foto: Benjamin Westhoff

Es war eine Pool-Party mit tragischem Ende. Am ersten Juni-Wochenende saß Philipp Keutmann aus Heinsberg kerngesund mit anderen jungen Leuten in einem Whirlpool bei Freunden. Heute ist der 26-Jährige froh, dass er im Rehabilitationszentrum Godeshöhe in Bad Godesberg in einem Rollstuhl sitzt und zumindest die Arme bewegen kann. „Ich hatte gar nicht viel getrunken. Aber ich bin trotzdem mit dem Kopf zu steil ins Schwimmbecken nebenan gesprungen“, erinnert sich Keutmann an den wohl größten Fehler in seinem Leben.

Sein Kopf schlug auf dem Beckenboden auf. Ein Halswirbel brach. Seither ist alles unterhalb der Brust gelähmt – ohne Aussicht auf Besserung. „Jedes Jahr gibt es rund 40 solcher Badeunfälle in Deutschland. Meistens sind es junge Männer, die sich überschätzen“, sagt Keutmanns behandelnder Arzt Dr. Andreas Hildesheim, der sich seit 2001 im Rehabilitationszentrum um Querschnittsgelähmte kümmert.

Wie man ihnen und anderen Patienten mit neurologischen Defekten nach einem Schlaganfall oder Unfall besser helfen kann, diskutierten am Wochenende drei Tage lang rund 800 Mediziner und Wissenschaftler auf der sechsten gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurorehabilitation und der Deutschen Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neurorehabilitation in der Bad Godesberger Stadthalle.

Ein Schlaganfall ist heute noch immer die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Mit Hilfe der sich rasant entwickelnden Intensivmedizin (etwa durch so genannte Stroke Units) überleben heute aber viel mehr Patienten einen Schlaganfall oder etwa einen schweren Verkehrsunfall als noch vor wenigen Jahren. Diese Entwicklung hat allerdings eine Kehrseite: Die Betroffenen sind häufig schwer beeinträchtigt.

„Kognitives und motorisches Lernen bildet die Grundlage für erfolgreiche funktionelle Verbesserungen, sei es durch Wiedererlangung ursprünglich vorhandener Fähigkeiten, sei es durch das Erlernen von Ersatzstrategien“, erklärt der Tagungspräsident Professor Hans Karbe, der als Ärztlicher Direktor auf der Godeshöhe tätig ist. Auch Oberarzt Hildesheim setzt darauf: „Wir können kaputtes Gewebe nicht heilen. Aber wir können Patienten mit Tricks und Training so fit machen, dass sie am Leben wieder teilnehmen können“, sagt er. Das reicht von Anpassung des Rollstuhls über Fahrtrainings bis Kraftsport und Sprachtherapie.

Dazu haben Neurologen vielversprechende Therapieansätze entwickelt. Professor Gottfried Schlaug berichtete über erste Ergebnisse seiner melodischen Intonationstherapie. Bei jedem fünften Schlaganfall-Patienten ist das Sprachzentrum in der linken Gehirnhälfte derart geschädigt, dass er sich nicht mehr verständigen kann. Mediziner sprechen von einer Aphasie.

Schon länger ist allerdings bekannt, dass viele dieser Patienten Lieder singen können. Schlaug und sein Team an der Harvard Medical School in Boston, USA, nutzten diese Erkenntnis, um mit Betroffenen ein Ersatz-Netzwerk für den Sprachgebrauch in der rechten Gehirnhälfte zu entwickeln. Indem sie die Worte zunächst sängen, könnten die Patienten ihren Wortschatz in 75 Sitzungen von Null auf einige Tausend Wörter ausweiten.

Hoffnung für Querschnittsgelähmte kommt hingegen aus der Schweiz. In Zürich möchte Professor Armin Curt Betroffenen mit einer Stammzelltherapie im wahrsten Sinne wieder auf die Beine helfen. Eine Transplantation von Stammzellen ist seit Jahren oft die letzte Hoffnung bei Leukämien, Knochenmarkkrebs oder Lymphomen. Nach ersten Studien in den USA und weiteren in Europa hat Curt nun auch Querschnittsgelähmten neurale Stammzellen ins Rückenmark eingesetzt.

Ziel der gerade abgeschlossenen Studie sei zunächst die sichere Integration der Zellen im Rückenmark und dadurch eine Verbesserung der Symptome gewesen, erklärte er in seinem Vortrag. Tatsächlich hätten sich bei einigen Patienten nach dieser Behandlung sensible Funktionen verbessert, so dass sie ihre Beine, ihren Darm oder ihre Blase wieder spüren konnten.

„Erst auf der Grundlage einer wiederhergestellten zellulären Struktur im Rückenmark kann dann die Reprogrammierung der Funktion erfolgen“, ergänzte Tagungspräsident Karbe. Allerdings warnten die Mediziner vor verfrühten Hoffnungen. Auch in der normalen Entwicklung dauert es ein Jahr, bis ein Baby zunächst Krabbeln und dann Laufen lernt. Auch Querschnittsgelähmte mit neuen Nervenverbindungen im Rückenmark müssten mühselig jeden Schritt aufs Neue erlernen.

Für Philipp Keutmann stehen derzeit ganz andere Prioritäten im Vordergrund. Er ist froh, dass er mit viel Training immerhin seine Arme und Hände wieder bewegen und sich damit in vielen Situationen selbst helfen kann. „Man braucht außerdem einige Zeit, um sich an das neue Leben zu gewöhnen. Ich bin jetzt immer wieder überrascht, was ich mit dem Rollstuhl trotzdem alles anfangen kann.“

Und er hat schon wieder Pläne: Die alte Wohnung ist gekündigt. Nach der Entlassung Mitte Dezember wird der junge Mann in eine behindertengerechte neue Wohnung ziehen. Im neuen Jahr möchte er dann wieder im Büro arbeiten. Sein Arbeitgeber hat dazu schon umfangreich umgebaut. „Wieder ein geregelter Alltag – das ist im Moment mein oberstes Ziel“, sagt Keutmann. Den Humor hat er nicht verloren. Selbstironisch trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Vom Beckenrand springen verboten“. Er sagt: „Das sollte mir wirklich niemand nachmachen“.

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