Wenn das Studium über den Kopf wächst Hilfe für Studenten mit psychischen Problemen

Bonn · Depressionen und Ängste unter Studenten nehmen laut einer Erhebung der Barmer Ersatzkasse stark zu. Die Versorgung der jungen Erwachsenen ist laut Experten schlecht. Eine Betroffene berichtet.

Exzellenz, Hochleistung, Weltvergleich – die Universitäten stehen längst im ständigen Wettbewerb um die klügsten Köpfe, die meisten Veröffentlichungen, Preise und die höchsten Drittmittelzahlungen. Das ist politisch gewollt und soll Deutschlands Position als Wissensnation dauerhaft erhalten. Vom Studentenleben, das zur Entwicklung von geistiger Reife, Charakter und Persönlichkeit beitragen und akademische Methodenkompetenzen vermitteln soll, ist kaum noch die Rede – und auch nicht von denen, die mit dem hohen Tempo an Prüfungen, Hausarbeiten, Praktika und Nebenjobs nicht mithalten können.

Das sind eine ganze Menge. Wie eine Daten-Auswertung der Barmer Ersatzkasse unter ihren 700.000 Versicherten im Alter von 18 bis 30 Jahren ergab, ist inzwischen mehr als jeder sechste Student (17 Prozent) von einer psychologischen Diagnose betroffen. Das sind 470.000 von insgesamt 2,7 Millionen Studierenden. Besonders erschreckend: Die Zahl festgestellter Depressionen unter 18- bis 25-Jährigen hat von 2005 bis 2016 um 76 Prozent zugenommen.

Dass junge Erwachsene mit vielerlei Umstellungen klar kommen müssen, ist schon lange bekannt. Neu ist, dass besonders ältere Studierende Probleme bekommen. Erkranken nur 1,4 Prozent der Studenten mit 18 an einer Depression, aber 3,2 Prozent der Gleichaltrigen, so kehrt sich das Bild zehn Jahre später um. Bei den 28-Jährigen sind 3,9 Prozent der Studenten betroffen, gegenüber 2,7 Prozent der übrigen Gleichaltrigen.

Werte, die auch Felix ter-Nedden im Alltag bestätigt sieht. Der Psychologie-Student arbeitet in der psychosozialen Beratungsstelle des AStA der Uni Bonn. „Wir sehen – abgesehen von Startschwierigkeiten fern vom Elternhaus – Probleme vor allem bei Studierenden über 25 Jahren“, sagt er. „Und es gibt eine grottenschlechte Versorgung für junge Erwachsene“, sagt der Psychiater und Psychotherapeut Dr. Marcel Lüssen.

Probleme vor allem bei Studenten über 25 Jahren

Während die Kinder- und Jugendpsychologie die Klienten mit 18, spätestens 20 Jahren abrupt abgeben müsse, seien viele junge Erwachsene dem harschen Regime der Erwachsenenpsychologie noch nicht gewachsen. Dies sei besonders gravierend, weil viele Störungen im Jugendalter ohne Behandlung chronisch würden. Im März hat Lüssen deshalb eine Tagesklinik für junge Menschen von 17 bis 30 Jahren in der Universitätsklinik eröffnet. Die zehn Behandlungsplätze waren nach wenigen Tagen belegt, die Warteliste ist lang.

Auch Lisa (Name geändert) ist mit dem Studienalltag nicht klargekommen. Als die junge Frau 2013 nach einem Auslandsaufenthalt in Bonn ihr Studium der Geschichte begann, schien alles auf einem guten Weg, berichtet stellvertretend für sie der evangelische Studentenseelsorger Michael Pues. Zusammen mit seinem katholischen Kollegen hat er das Thema jetzt in einer Info-Veranstaltung aufgegriffen.

Die ungewohnte Umgebung, die vielen neuen Aufgaben, das hohe Tempo – da kam Lisa nicht mit. Nach wenigen Wochen brach sie zusammen, kam über Hausarzt und Psychiater in die LVR-Klinik. Diagnose: Eine rezidivierende depressive Störung. „So etwas dauert mit guten Zwischenphasen im Regelfall lange, oft mehr als fünf Jahre“, sagt Mediziner Lüssen.

Lisa konnte erst zum Sommersemester 2014 wieder zurück an die Uni, begleitet von einer Therapie und wechselnden Medikamenten. Jedes Semester erlebte sie ein ähnliches Muster: Anfangs ging es gut – sobald die Prüfungen anstanden, war ihr Nervenkostüm nicht tragfähig. Mitte 2017 ging sie für mehrere Monate in die Uniklinik. Aktuell nimmt sie zwei Urlaubssemester, arbeitet nebenher. Ausgang offen.

Während der Prüfungsphase wird das Nervenkostüm dünn

Vor der Einführung von Bachelor und Master habe es einen stärkeren Wechsel von Stress- und Ruhephasen gegeben, erklärt Pues. Angehende Juristen oder Mediziner hätten dauernde Belastung dagegen schon vorher gekannt, ergänzt ter-Nedden: „Aber heute muss jeder ständig auf einen Einser-Schnitt achten, um eine Zulassung zum Master-Studium zu bekommen“.

Mit niederschwelligen Angeboten wie der Beratungsstelle des AStA oder Erstberatungen in der Tagesklinik auch ohne Überweisung wollen die Experten mehr Betroffenen den Weg zu professioneller Hilfe ebnen. Ein tragfähiges soziales Netz und verlässliche Beziehungen seien der beste Schutz vor psychischen Störungen, rät Lüssen. Freunde oder Angehörige sollten Veränderungen oder Probleme offen ansprechen, auch wenn zu einer erfolgreichen Therapie ein gewisser Leidensdruck und ein Wille zur Veränderung nötig seien.

Unbehandelt enden Depressionen, Ängste oder Schizophrenie nicht selten im Suizid. Jeder fünfte Todesfall eines jungen Erwachsenen sei darauf zurückzuführen, warnt Lüssen. Dabei gebe es meist eindeutige Warnzeichen: „Hinter 90 Prozent davon steckt eine Erkrankung – und 75 Prozent der Opfer kündigen ihre Tat vorher an.“

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