Teilnehmer für Online-Studie der Uni Bonn gesucht „Wahrscheinlich kennt jeder ein Kind, das sexuelle Gewalt erlebt hat“

Bonn · Wer sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen bekämpfen möchte, muss möglichst viel über ihr Ausmaß wissen. Doch wollen die Opfer überhaupt darüber sprechen? Eine Studie der Uni Bonn möchte genau dies herausfinden.

 Durch Leiden zum Schweigen verurteilt? Eine Studie soll klären, ob, wann und unter welchen Umständen die Opfer sexueller Gewalt sich anderen Personen anvertrauen. (Symbolbild)

Durch Leiden zum Schweigen verurteilt? Eine Studie soll klären, ob, wann und unter welchen Umständen die Opfer sexueller Gewalt sich anderen Personen anvertrauen. (Symbolbild)

Foto: Photographee.eu - stock.adobe.co/Photographee.eu

Michaela Sonnicksen, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bonner Institut für Psychologie, und Masterstudentin Jacqueline Richter rufen Personen ab 18 Jahren dazu auf, an einer Studie der Rechtspsychologie an der Uni Bonn teilzunehmen. Es geht um das Thema sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen.

„Wir wollen mit diesen Erhebungen näher betrachten, ob und wann Menschen, die in Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erfahren haben, sich anderen Personen anvertrauen, und unter welchen Umständen dies geschieht“, erklärt die 25-jährige Studentin Richter zur Online-Befragung.

Es können auch Personen teilnehmen, die keine Gewalterfahrungen gemacht haben. Alle Antworten bleiben anonym. Es ist kein Rückschluss auf die Person möglich. Die Beantwortung der Fragen kann bis zu 20 Minuten in Anspruch nehmen. Unter den Teilnehmern  werden Gutscheine verlost.

Dass sich Kinder und Jugendliche jemandem anvertrauten, wenn sie Opfer wurden, sei wichtig, um die Gewalt zu beenden, erläutert Richter. Denn außer den Betroffenen und den Tätern bekomme oft niemand etwas von den Taten mit. „Aus unseren Ergebnissen lassen sich womöglich Ideen für Schulprojekte, Internetkampagnen oder ähnliches ableiten“, hofft Richter und freut sich über schon viele Rückmeldungen.

Wahrscheinlich kennt jeder ein Kind, das sexueller Gewalt ausgesetzt war oder ist – und nicht darüber spricht

„Wir benötigen für die statistische Auswertung spezieller Fragestellungen aber sehr große Teilnehmerzahlen, gerade weil die individuellen Konstellationen des Erlebnisses sehr unterschiedlich sind.“ Für sie sei besonders wichtig, dass betroffene Kinder und Jugendliche wissen sollten: Sie selbst seien nicht „daran schuld“, wenn ihnen Gewalt angetan werde. Hier seien Eltern und Lehrer gefragt. „Sie sollten eine Vertrauensbasis schaffen und Themen wie Sexualität oder sexuelle Orientierung nicht tabuisieren“, meint Richter.

Laut Johannes-Wilhelm Rörig, dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland, wurden bundesweit allein für das Jahr 2020 rund 14 500 entsprechende Fälle angezeigt. (Hier können Sie Kontakt aufnehmen.) Das Dunkelfeld sei um ein Vielfaches größer. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Das seien rund ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse.

Viele dieser Fälle gingen nicht in die Kriminalstatistik ein, weil sie nie zur Anzeige gebracht würden, und würden auch sonst nicht publik. „Sexuelle Gewalt gibt es überall: in Familien, in der Nachbarschaft, im Sportverein und im Netz“, erläutert Rörig. Es sei mehr als wahrscheinlich, dass jede und jeder ein Kind kenne, das sexueller Gewalt ausgesetzt war oder sei – und aus Scham oder Angst aber nicht darüber spreche.

Sie hoffe, dass die Bonner Studie nun wichtige Erkenntnisse dazu liefere, welche Faktoren Opfer davon abhalten, sich Hilfe zu suchen, sagt Michaela Sonnicksen, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bonner Institut für Psychologie arbeitet. Sie leitet die Studie innerhalb ihres Dissertationsprojekts zum Offenbarungsverhalten nach sexuellen Missbrauchserfahrungen. Die aus dem Projekt gewonnenen Erkenntnisse könnten hoffentlich dabei helfen, Maßnahmen zu entwickeln, die Opfern den Zugang zu Hilfeleistungen erleichtern sollen, so Sonnicksen.

„Nur Betroffene können uns solche Informationen liefern“

Denn in der Studie stehe bewusst die Opferperspektive im Vordergrund. Wenn Betroffene selbst die Umstände schilderten, unter denen es zum Missbrauchsvorfall kam, und dazu erläuterten, ob und unter welchen Umständen sie das Erlebnis einer anderen Person anvertrauten und wie die Reaktionen des Umfelds waren, dann sei das alles eine sehr wichtige Informationsquelle. „Denn nur Betroffene können uns solche Informationen liefern“, meint Sonnicksen.

Sie sei überzeugt, dass Kindern und Jugendlichen eine gute Sexualaufklärung helfe. „Dabei muss das Thema eigener körperlicher Grenzsetzung und sexuellen Missbrauchs einbezogen werden“, fordert die Projektleiterin. Gerade wenn Kinder jünger seien, erlebten sie eine Tatsituation zwar als unangenehm, aber sie könnten nicht erkennen, dass es sich um sexuellen Missbrauch handelt.

„Außerdem müssen Kinder und Jugendliche wissen, wie sie am besten reagieren, wenn sie Opfer von Missbrauch werden, wen sie ansprechen können und wer ihnen helfen kann“, betont Sonnicksen. Heranwachsenden müsse vermittelt werden, dass sie sich selbst auf keinen Fall für das Geschehene schämen müssten. Zudem argumentiert die wissenschaftliche Mitarbeiterin, dass Personen, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, in Aus- und Weiterbildungen lernen müssten, wie sie in Verdachtsfällen reagieren sollten.

Weitere Informationen zur Studie finden Sie hier.
Kontakt: sonnicksen@master-rechtspsychologie.de

Wir wollen wissen, was Sie denken: Der General-Anzeiger arbeitet dazu mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey zusammen. Wie die repräsentativen Umfragen funktionieren und warum Sie sich registrieren sollten, lesen Sie hier.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Hilfe für Start-ups aus der Hochschule
Wenn Forschende und Studierende zu Gründern werden wollen Hilfe für Start-ups aus der Hochschule
Zum Thema
Aus dem Ressort
Wie geht es nach ganz oben?
Wie kommt man an die Spitze?
Top-Performer aus der RegionWie kommt man an die Spitze?