Patientenkolloquium am Donnerstag Uniklinikum Bonn berät zu Dystonie
Bonn · Beim nächsten Patientenkolloquium des Universitätsklinikums Bonn geht es um Dystonie. Was tun, wenn die im Gehirn ausgelösten Muskelkrämpfe ein normales Leben unmöglich machen? Welche Therapien gibt es?
Es geschieht ganz plötzlich und ohne Vorwarnung – tagsüber nach dem Sport oder auch nachts, mitten im Schlaf: Ein Muskel im Unterschenkel zieht sich zusammen und wird dabei „steinhart“. Auftreten? Unmöglich mit diesem Schmerz, der einen minutenlang malträtieren kann. Wer das kennt, wird sich wahrscheinlich nicht vorstellen wollen, wie es wäre, wenn solch ein Zustand anhielte. Quälende Verkrampfungen der Arme und Beine, des Rumpfes, des Nackens oder sogar im Gesicht – über mehrere Stunden oder sogar noch länger? Für mehr als 160.000 Menschen bundesweit ist das Realität. Sie leiden unter einer der zahlreichen Formen von Dystonie.
Mit diesem Oberbegriff werden neuromuskuläre Erscheinungen bezeichnet, bei der unwillkürliche und anhaltende Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur zu verzerrenden und sich wiederholenden Bewegungen, zu beständigem Zittern oder zu abnormen Körperhaltungen führen, was selbst alltägliche Tätigkeiten unmöglich macht und orthopädische Folgeschäden nach sich ziehen kann. Anders als bei Muskelverspannungen, die sich unter Dehnung, Massage und Wärme schon bald wieder lösen, dauern die Verkrampfungen einer Dystonie tatsächlich lange an. Zudem haben sie einen völlig anderen Ursprung: Während Muskelkrämpfe durch kurzzeitige Störungen im Muskel selbst entstehen, beruht Dystonie auf einer Fehlfunktion der Hirnareale, die für die Bewegungskoordination zuständig sind und bei denen die sogenannten Basalganglien die Hauptrolle spielen.
Heilbar ist Dystonie bislang nicht
Die Erkrankung ist insgesamt betrachtet zwar relativ selten, doch von Fall zu Fall mit hohem Leidensdruck und massiven Einschränkungen der Lebensqualität verbunden – nicht zuletzt auch, weil die Betroffenen oft nicht ernst genommen oder aufgrund ihrer auffälligen Symptome ausgegrenzt werden und/oder sich selbst in die soziale Isolation zurückziehen. Heilbar ist Dystonie bislang nicht, doch lässt sie sich mit Medikamenten oder auch chirurgisch in den meisten Fällen zumindest so weit behandeln, dass die Patientinnen und Patienten schließlich doch ein weitgehend normales Leben führen können.
Wie Dystonie diagnostiziert wird und welche Optionen zur symptomatischen Therapie es gibt, ist Thema des nächsten Patientenkolloquiums des Universitätsklinikums Bonn (UKB) am Donnerstag, 23. März. Professor Jaroslaw Maciaczyk (Sektionsleitung Stereotaktische und Funktionelle Neurochirurgie, Klinik für Neurochirurgie) und Privatdozent Dr. Pawel Tacik (Oberarzt der Klinik für Neurodegenerative Erkrankungen) werden an diesem Abend auf Behandlungen mit Botulinumtoxin und auf die Tiefe Hirnstimulation (THS) eingehen, aber auch zeigen, dass Dystonie weitaus älter ist als der sie bezeichnende medizinische Fachbegriff und dass sie auch Ausdruck in der (Kunst-)Geschichte gefunden hat.
Zunächst gibt es bei dieser Erkrankung – nach dem essenziellen Tremor und Morbus Parkinson ist sie die dritthäufigste neurologische Bewegungsstörung – zahlreiche Formen zu unterscheiden. Die primäre Dystonie tritt unabhängig von einem Ereignis oder einer weiteren Erkrankung auf. „Man spricht dann von einer idiopathischen Dystonie“, erläutert Maciaczyk. Bei der sekundären Dystonie hingegen ist eine Ursache wie beispielsweise die Einnahme bestimmter Medikamente, ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Stoffwechselstörung oder eine neurologische Begleiterkrankung klar zuzuordnen.
Dystonie kann bereits bei Kindern und Jugendlichen auftreten und sich dabei ausweiten
Weitere Differenzierungen beziehen sich darauf, wo und wie die Erkrankung sich zeigt. Zur größten Gruppe der fokalen, nur einen begrenzten Teil des Körpers betreffenden Dystonie gehören zum Beispiel die zervikale (Torticollis spasmodicus), bei der die Halsmuskulatur krankhaft aktiv ist, oder auch der Blepharospasmus, bei dem es zu Verkrampfungen der Lidschlussmuskulatur kommt. Segmentale Dystonie ist auf zwei benachbarte Regionen begrenzt. Das können Gesicht und Kiefer sein oder Arm und Hals. Multifokale Dystonie betrifft zwei oder mehrere nicht benachbarte Regionen wie Gesicht und Arm oder Arm und Bein. Die generalisierte Dystonie ist auf mehrere nicht benachbarte Regionen ausgedehnt, zum Beispiel auf beide Beine oder ein Bein plus Rumpf sowie eine andere Körperregion. Diese seltene Form ist mit schwersten Beeinträchtigungen verbunden. Bei der Hemidystonie sind Arm und Bein einer Körperseite von Verkrampfungen betroffen. Dystonie kann bereits bei Kindern und Jugendlichen auftreten und sich dabei ausweiten. Oder sie manifestiert sich erst im Erwachsenenalter und bleibt in der Regel begrenzt, also fokal oder segmental. Sie tritt typischerweise zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf und ist meist als idiopathisch einzuordnen.
Die Diagnostik beginnt mit der Anamnese, bei der Patientin oder Patient die Symptome beschreiben; wie oft die Dystonie auftritt und wie schwerwiegend sie ist. Durch Palpation können Ärztinnen/Ärzte die Schmerzempfindlichkeit sowie das Ausmaß der Muskelverspannung untersuchen. „Eine Magnetresonanztomografie (MRT) wird bei idiopathischer Dystonie in den allermeisten Fällen keine krankhafte Veränderung der Hirnstruktur erkennen lassen. Sie dient uns vorwiegend dazu, andere Ursachen gezielt auszuschließen“, beschreibt Tacik das Vorgehen. Das könnten neben den Folgen eines Traumas oder Mangelversorgung mit Sauerstoff (Hypoxie) aufgrund schwerer Durchblutungsstörungen unter Umständen auch eine Verkalkung der Basalganglien sein („Morbus Fahr“) – oder Morbus Wilson, die „Kupferspeicherkrankheit“: Sie kann mit Zittern, Sprach- und Schluckproblemen und Koordinationsschwierigkeiten der Dystonie sehr ähnlich sehen. Allerdings ist Kupfer in Blut und Urin nachweisbar, und spezielle Enzyme deuten auf diese Krankheit hin.
Ist die Diagnose Dystonie gesichert, wird der nächste Schritt die Wahl der Therapie sein. Am UKB ist Tacik auf die Behandlung mit Botulinumtoxin spezialisiert. Das vom Bakterium Clostridium botulinum gebildete Nervengift ist zwar das tödlichste, das die Natur kennt. Doch dem Leitsatz des mittelalterlichen Arztes Paracelsus folgend „Sola dosis facit venenum“ (Die Dosis bestimmt das Gift), lässt es sich bei Dystonie stark verdünnt injizieren (spritzen) und erzielt für die Betroffenen spürbar gute Erfolge. Eine wichtige Rolle spielt dabei der Neurotransmitter Acetylcholin: ein Botenstoff, der mittels Vesikeln (Bläschen) zur synaptischen Spalte zwischen den Nervenzellfortsätzen (Axonen) transportiert wird, um dort Signale zu übermitteln. Botulinumtoxin behindert die Freisetzung von Acetylcholin, der Muskel erschlafft.
Die erwünschte Wirkung lässt allerdings im Laufe der Zeit nach, sodass die Injektionen regelmäßig wiederholt werden müssen. „Das ist derzeit rund alle drei Monaten nötig“, sagt Tacik. „Um der Bildung neutralisierender Antikörper entgegenzusteuern, wird daran gearbeitet, die Intervalle zu verlängern.“ Weitere Medikamente, die bei schwerer Dystonie eingesetzt und als Tablette eingenommen werden, sind unter anderem Anticholinergika, krampflindernde Benzodiazepine, Antiepileptika oder das bei der Parkinson-Therapie eingesetzte Levodopa.
Spricht eine schwere Dystonie auf Medikamente nur unzureichend an, besteht die Möglichkeit der Tiefen Hirnstimulation (THS), die Maciaczyk vorstellen wird. Diese Operation wird durch Ärzte der stereotaktischen Neurochirurgie unter Vollnarkose durchgeführt, sie dauert insgesamt rund sechs Stunden. Ein am Schädel befestigter Ring dient zur exakten Lokalisation des krampfauslösenden Hirnareals. Um zwei bis fünf Mikroelektroden dort zu platzieren, wird ein Loch mit etwa neun Millimeter Durchmesser in die Schädeldecke gebohrt. Nach Testsimulationen werden die Elektroden fixiert. Wie beim Herzschrittmacher führt ein Verlängerungskabel zu einem Impulsgeber, der – in Brust oder Bauch eingesetzt – von außen gesteuert werden kann. „Das ist wichtig für die genaue Einstellung der THS in den folgenden Tagen und Wochen, die Weiterbehandlung und die regelmäßige Kontrolle an der Klinik“, betont Maciaczyk.
Wer sich über das Patientenkolloquium hinaus näher für Dystonie interessiert und/oder selbst davon betroffen ist, sollte sich den 28. Oktober 2023 vormerken: Denn nach dem ersten Informationstag für Patienten am 22. Oktober 2022 wird es die Veranstaltung am UKB mit allgemeinverständlichen Vorträgen auch in diesem Jahr wieder geben.