Pädagogische Forschung Wie Grundschullehrer Bildungsprozesse besser verstehen lernen

Alfter · An der Alanus Hochschule in Alfter entstand eine empirische Fallstudie als Masterarbeit. Lehrerin Elke Nowak will so auch anderen Grundschullehrern helfen, Bildungsprozesse tiefer zu verstehen.

 Manche Kinder mit Rechenschwäche können Mathematikaufgaben nur mit Hilfe der Finger bewältigen.

Manche Kinder mit Rechenschwäche können Mathematikaufgaben nur mit Hilfe der Finger bewältigen.

Foto: picture alliance / dpa

Der blasse, zurückhaltende Junge in ihrer neuen Klasse 2 fiel Lehrerin Elke Nowak sofort auf. „Er scheute jeglichen Blickkontakt, und ich konnte ihn schlecht einschätzen. Warum machte er auf mich einen so traurigen Eindruck?“, fragte sich Nowak. Im Laufe der ersten Schulwochen gab ihr der Siebenjährige immer mehr Rätsel auf. Moritz (Name von der Redaktion geändert) habe sich, einmal angesprochen, sehr sprachgewandt, aber irgendwie kompliziert ausgedrückt, erläutert Nowak in ihrer Masterarbeit, die sie bei Professor Axel Föller-Mancini an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft geschrieben hat.

Doch der verschlossene Junge habe sich sofort gesperrt, wenn es ans Schreiben und Rechnen in Arbeitsheften ging, fährt Nowak fort: Alsbald sei er im Toilettenraum verschwunden. „Was steckt dahinter?“, fragte sich die Grundschullehrerin und brachte dieses nicht nur für sie spannende Thema in den Fachbereich Bildungswissenschaft am Alanus-Institut für Erziehungswissenschaft ein.

Schritt für Schritt beschreibt Nowak ihr weiteres Vorgehen im Rahmen einer Einzelfallstudie. In der Freiarbeitszeit der Klasse bot sie dem Jungen, der keinen festen Freund fand, ein individuelles Mathematiktraining an. Ohne die Klassenkameraden taute Moritz langsam auf und versuchte alsbald, in diesen Eins-zu-eins-Übungssituationen vom Thema abzulenken, um von privaten Erlebnissen zu erzählen.

Trotzdem konnte der Junge bereits geübte Rechenstrategien weiterhin auch nach kurzer Zeit nicht mehr anwenden. Sie habe alsbald das letzte Zeugnis des Jungen studiert, schreibt Nowak. „Er ist ein unsicheres Kind, das große Angst davor hat, etwas falsch zu machen“, stand da bloß.

Die Lehrerin bohrte weiter nach, suchte das Gespräch mit der Mutter und fand so heraus, dass sich Moritz bereits im Kindergarten selbst das Lesen beigebracht hatte. Daraufhin sei bei ihm eine Hochbegabung diagnostiziert worden, woraufhin ihn die Mutter früher zur Schule angemeldet hatte – und dazu gleich an einer bilingualen.

Was offenbar keine gute Entscheidung für das Kind war: Denn Moritz habe alsbald schon einen Schulwechsel zu verkraften gehabt, so Nowak. Die merklich dominante Mutter habe jedoch auch in dieser Situation nach anderen Schuldigen gesucht und die Erziehungsmethoden des Vaters konterkariert.

Dem Sohn vermittelte sie offenbar jedoch nicht, dass Lernen auch Anstrengung bedeutet, so dass für ihn das Lernen trotz seiner Hochbegabung nur lästige Pflicht wurde. Bei Bedarf floh er eben zur Toilette. Moritz träumte von einer „Lernrakete“, in der man in fünf Minuten alles lernt, was man wissen muss, so Nowak.

Hier hätten sich Forschungsergebnisse bewahrheitet, dass gerade solche Hochbegabte, bei denen die Persönlichkeits- oder Umweltgegebenheiten der Begabung nicht förderlich sind, keine Leistungen erbringen können. Auf das Verhalten der Mutter ließen sich also viele Reaktionen des Sohnes zurückführen. Ihr Einfluss reichte bis in den Klassenraum.

Nowak zog daraus die in ihrer Masterarbeit nachgezeichneten pädagogischen Konsequenzen. Sie habe dem Kind bewusst mehr Freiraum gegeben, damit es selbst die Initiative ergreifen konnte. Sie habe ihm nach und nach mehr Selbstbewusstsein verschafft und sei sowohl mit ihm als auch mit der Mutter immer im Gespräch geblieben. Eine Therapeutin sei mit ins Boot geholt worden.

All diese Etappen zeichnet die Masterarbeit gut verständlich, detailliert und durchaus auch selbstkritisch nach. Die Pädagogin weiß, dass der Einfluss der Grundschule auf die weitere Entwicklung des Kindes letztlich nur begrenzt bleibt.

Und so wünscht sich Nowak, dass es Moritz gelingen möge, sich in der Pubertät abzunabeln. Sie selbst habe von ihrer empirischen Fallstudie auf jeden Fall sehr profitiert: Denn „Aktionsforschung ist für den Lehrer ein gutes Mittel, um eigene Handlungsweisen und deren Wirkung in der Erziehungsarbeit zu überprüfen.“

Kontakt zum Fachbereich Bildungswissenschaft bei Alanus unter www.alanus.de/edu

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