Bonner Forscher: "Krisen als Einiger Europas"

Abwärtsspirale der Ökonomie könnte der EU eine Identitätsdebatte aufzwingen

Bonner Forscher: "Krisen als Einiger Europas"
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Bonn. In jeder Krise liegt eine Chance - das gilt auch für die Europäische Union. Davon ist zumindest Andreas Marchetti vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn überzeugt. "Krisen können und sollen als Einiger Europas genutzt werden", sagt der Wissenschaftler.

"Schließlich ermöglichen sie eine Bewusstmachung dessen, um was es uns in der EU eigentlich geht." Marchetti koordiniert am ZEI das deutsch-französische Forschungsprojekt "Deutschland und Frankreich angesichts der europäischen Krisen", das zusammen mit dem Institut français des relations internationales (lfri) in Paris durchgeführt wird.

"Die EU ist in ihrer derzeitigen Architektur ein relativ träges politisches Konstrukt, das offenbar sehr starke äußere Impulse braucht, um grundlegende Prozesse anzustoßen", bilanziert Marchetti. Jetzt könnte der Zeitpunkt für eine Kursänderung gekommen sein, denn der riesige Tanker Europa kreuzt in denkbar rauer See. "Europa befindet sich in einer Doppelkrise", analysiert der ZEI-Forscher.

Schon seit langem wollen sich die europäischen Institutionen erneuern, weiter demokratisieren und sich gerade hinsichtlich der Entscheidungsorgane fit für die - zu großen Teilen bereits vollzogene - Erweiterung machen. Und mit der Türkei, Kroatien und Island wollen weitere Länder ins gemeinsame Schiff Europa. Zu dieser Erweiterungskrise kommt laut Marchetti seit einem guten Jahr nun auch noch die Wirtschafts- und Finanzkrise.

"Ein Land allein kann in dieser Krise kaum bestehen", meint Marchetti. "Das zeigt zum Beispiel das Ringen um General Motors und Opel." Die Geld- und Warenströme sind global vernetzt. "Zunehmend wird die Notwendigkeit gesehen, ein gemeinsames Regelwerk - etwa für die Geldanlage durch Banken - zu schaffen." Was Ökonomen und Politiker zurzeit tagtäglich umtreibt, die Sorge um Wirtschaft und Finanzen, könnte laut Marchetti für die Europäische Union der Humus sein, auf dem ein gemeinsamer Baum sprießt.

"Solange alles gut läuft, denkt keiner daran, das gemeinsame europäische Fundament zu festigen", sagt der Politologe. Die Debatte um die Zukunft der EU drehe sich schon seit langem im Kreis, lautet Marchettis nüchterne Bilanz. In den vergangenen Jahren habe sich lediglich eine kleine europäische Elite mit Reformen beschäftigt. "Die Neuausrichtung der EU-Institutionen interessiert viele Menschen nicht", sagt der Wissenschaftler.

"Diese Debatte emotionalisiert auch viel weniger als zum Beispiel die Einführung des Euro." Die mangelnde Relevanz für die Bürger habe auch zum Scheitern eines Verfassungsvertrages für Europa beigetragen. Für die Bürger sei von "Brüssel" im Lebensalltag zu wenig spürbar. "Die Chancen werden häufig von der Europapolitik nicht ausreichend vermittelt", sagt Marchetti. Der Fall des "Eisernen Vorhangs" vor 20 Jahren habe zunächst großen Enthusiasmus in der Bevölkerung entfacht.

"Die Debatten über die Osterweiterung der EU waren dagegen sehr skeptisch." In einer stark verkürzten Diskussion sei es dann etwa darum gegangen, ob billigere Klempner aus dem Osten Facharbeiter in Deutschland verdrängen. "Diese Bedenken haben sich nicht bestätigt", berichtet der Politikwissenschaftler. "Durch neu hinzugekommene Staaten in der EU ist es nicht zu den befürchteten Verschiebungen am Arbeitsmarkt gekommen."

Im Gegenteil: Die Erweiterung habe junge Demokratien gestärkt und die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigt. Frankreich und Deutschland könnten sich nun einmal mehr als "Motor Europas" erweisen - und das nicht etwa, weil sie immer auf einer Linie wären. "Im Gegenteil: Häufig sind die Positionen der beiden Länder zu EU-Themen sogar sehr verschieden", berichtet der ZEI-Forscher. "Beide folgen auch zu Recht ihren nationalen Interessen."

Aber die Kommunikationskanäle zwischen Deutschland und Frankreich seien durch die langjährige Freundschaft besonders gut ausgeprägt. "Wenn sich die beiden Länder auf Kompromisse verständigen, spiegelt das stellvertretend auch die Meinungsbilder der anderen 25 EU-Mitgliedsstaaten wieder", erklärt der Politologe. Der Bonner Wissenschaftler befragt nun mit seinen französischen Kollegen vor dem Hintergrund der Krise zum Beispiel politische Entscheidungsträger und Medien zur künftigen Rolle Europas.

Diese Daten sollen dann für einen weiteren Schritt genutzt werden: In welche Richtung muss sich Europa in den nächsten zehn Jahren bewegen? Welche Projekte sollen angestoßen werden, um die EU mit ihren 500 Millionen Einwohnern voranzubringen? "Diese Zukunftsperspektiven sollen dann veröffentlicht und Entscheidern zugänglich gemacht werden", sagt Marchetti über das Projekt. Und vielleicht zündet dann auch wieder der Motor des deutsch-französischen Tandems.

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