Praktische Übung Politikwissenschaft Bonner Studenten auf Exkursion in Serbiens Hauptstadt Belgrad

BONN · Im Wintersemester hatte der Studiengang Politikwissenschaft an der Universität Bonn ein Seminar zur Situation des Balkans. Nun soll dastheoretische Wissen angewendet werden - bei einem Besuch in der serbischen Hauptstadt Belgrad.

 Wunschtraum Europa: "Spätestens 2018" wolle Serbien Mitglied der EU werden, erfuhren die Bonner Studenten bei ihrem Besuch in Belgrad im Gespräch mit Regierungsvertretern. Hier das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt des Balkanstaates. FOTO: AFP

Wunschtraum Europa: "Spätestens 2018" wolle Serbien Mitglied der EU werden, erfuhren die Bonner Studenten bei ihrem Besuch in Belgrad im Gespräch mit Regierungsvertretern. Hier das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt des Balkanstaates. FOTO: AFP

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"Wenn ein Serbe nicht gerade Kaffee trinkt und eine Zigarette raucht, dann ist es das, woran er denkt", heißt es in der Speisekarte einer kleinen Bar in Zemun, der Schäl Sick Belgrads. Hier, in der Bar, können alle ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, und ein Schleier aus blauem Rauch hängt über den Köpfen der Gäste. Die Tür geht auf, und zusammen mit einem kalten Windstoß betreten drei junge Frauen die Kaschemme: perfekter Lidstrich, Zehn-Zentimeter-Absätze und aus Haarspray gemeißelte Frisuren, denen selbst ein Orkan nichts anhaben könnte. "Drei große Jelen bitte." Die Frauen bestellen drei halbe Liter des beliebtesten serbischen Biers und beginnen ein Gespräch im Dunste ihrer Zigaretten, den langen, dünnen aus Russland.

Es ist vier Uhr nachmittags am vierten Tag unserer Exkursion, zum ersten Mal ist es wolkig und kalt. Wir sind Studenten des Instituts für Politik und Gesellschaft der Uni Bonn, Gesandte von Professor Bodo Hombach, ehemaliger SPD-Spitzenpolitiker. Im Wintersemester hatten wir ein Seminar zur Situation des Balkans. Nun sollen wir unser theoretisches Wissen anwenden und mit unserem Dozenten Dr. Manuel Becker unsere Gesprächspartner durch kritische Fragen aufs Korn nehmen.

Die aber scheinen meist kritischer zu sein als wir selbst. Thomas Brey, Leiter des Büros der Deutschen Presse-Agentur in Belgrad, erzählt uns von Korruption, mangelnder Pressefreiheit und den medizinischen Zuständen: In ganz Serbien gibt es weniger als zehn CT-Geräte. Breys Hoffnungslosigkeit kriecht zu uns herüber und legt sich um uns wie ein pessimistischer Schleier: "Ich weiß wirklich nicht, wo der Ausweg für Serbien liegt", sagt er traurig.

Wie um dieses Bild zu vervollständigen, begegnet uns während des anschließenden Stadtspaziergangs als erstes ein Überbleibsel des Nato-Bombardements von Belgrad im Jahr 1999. Mit Löchern, die über mehrere Etagen gehen, so schief und krumm, als könnte es in jedem Moment einstürzen, steht das ehemalige Verteidigungsministerium da, mitten im Zentrum von Belgrad. Mit offenen Mündern schauen wir hin, unfähig etwas zu sagen, Kinder der fetten 90er Jahre in Deutschland, zum ersten Mal mit den direkten Folgen von Krieg konfrontiert.

Am Kalemegdan, der uralten Festung, die jahrhundertelang die Grenze zwischen Osmanischem Reich und Österreich-Ungarn markierte und wo die Save in die Donau fließt, erwartet uns ein ganz anderes Bild. Männer und Frauen jeden Alters sitzen auf den Mauern und Bänken und genießen die Strahlen der noch etwas schwächlichen Frühlingssonne. Alte Herren drängen sich um Schachspieler und fachsimpeln über den letzten Zug. Einer fängt mit kräftiger Stimme an zu singen, ein serbisches Volkslied. Auf den Wiesen fläzen sich Studenten und folgen mit ihren Blicken dem Lauf der beiden großen Flüsse.

Es scheint, als liefe hier die Zeit langsamer. An kleinen Ständen verkaufen alte Frauen Souvenirs, Ramsch und T-Shirts, wahlweise mit dem Konterfei von Tito, Putin oder einem US-amerikanischen Wrestling-Star. Serbien, so dämmert uns, steht wie eh und je zwischen den Stühlen von Ost und West. Da folgen Gay Parades auf Militärparaden für Wladimir Putin, und kyrillische und lateinische Schrift streiten sich um den obersten Platz auf den Schildern.

Man wolle in die EU, möglichst bis 2018, sagen uns die Vertreter der serbischen Regierung, aber andererseits sei die Abhängigkeit von Russland noch immer sehr groß. In einem langgezogenen Raum mit schweren Vorhängen, zentral positionierten Flaggen und einem großen Eichentisch mit Espressi darauf werden wir von der Regierung sehr freundlich empfangen. Höflich beantworten die Herren aus dem Stab von Ministerin Jadranka Joksimovic auch unsere Fragen. Doch als das Thema Pressefreiheit zur Sprache kommt, wird der Ton merklich kälter. In Frankreich würden die Zeitungen ebenfalls von der Regierung unterdrückt, sagt der Gesprächsführer bissig. Nach dieser Frage ist das Interview rasch zu Ende - der nächste Termin warte.

Etwas überrumpelt stehen wir schneller wieder auf der Straße vor dem Regierungsgebäude als gedacht. Wir zünden uns erst einmal Zigaretten an und verdauen das Interview. Jetzt können wir Serbien fühlen.

Abends gibt es Berge von Gegrilltem zum Imbisspreis. Ein Quartett (bestehend aus einem Akkordeonspieler, einem Geiger, einem Gitarristen und einem Kontrabassisten) spielt klassische Musik. Am Tisch nebenan gibt ein etwas dubioser Herr in den Fünfzigern die Dinare mit vollen Händen aus: Zwei Schnäpse für seine blutjungen Begleiterinnen, den teuersten Rotwein für einen jungen Herrn im schicken Mantel und mehrere tausend Dinar für die Musiker, die sich fortan nur noch um den Tisch des Gönners drängen. Von nun an tönen serbische Volkslieder durch das Restaurant, und nicht nur am Tisch des reichen Herrn singen die Gäste inbrünstig mit.

Danach wird wieder gegessen und geraucht. Viel Fleisch, viele Zigaretten. "So war es in Deutschland in den Siebzigern auch", kommentiert unser Dozent. Das hören wir nicht zum ersten Mal. Mir kommt Matthias Müller-Wieferig, Leiter des Belgrader Büros des Goethe-Instituts, in den Sinn, als er sagte: "Die Vergangenheit ist hier Gegenwart."

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