Das Gülle-Problem Die unliebsamen Effekte des Billig-Schnitzels

Wenn der Staat, getrieben von Lobbyisten, mehr duldet als gesetzlich erlaubt ist und die Gesundheit seiner Bürger ignoriert, schreitet die Europäische Kommission ein. Ein Drittel der deutschen Grundwasserkörper weist zu hohe Nitratwerte auf. Brüssel hat die Geduld verloren und Deutschland verklagt. Trinkwasser könnte bald teurer werden. Doch die Massentierproduktion stellt weiterhin niemand in Frage, obwohl sie bestehende Probleme - Treibhausgase, Antibiotika-Resistenzen - erheblich vergrößert.

 Mit dem Versprengen von Gülle werden dem Boden jene Nährstoffe zurückgegeben, die ihm Pflanzen zuvor entzogen haben. Doch in Deutschland wird dort überdüngt, wo zu viele Nutztiere gemästet werden.

Mit dem Versprengen von Gülle werden dem Boden jene Nährstoffe zurückgegeben, die ihm Pflanzen zuvor entzogen haben. Doch in Deutschland wird dort überdüngt, wo zu viele Nutztiere gemästet werden.

Foto: dpa

Viele Schweine, viel Kot, viel Urin. Das gilt für jede Tierart im Massenmastbetrieb. Wohin mit dem nährstoffreichen, aber arg stinkenden Stoff? Naheliegend: auf die Felder. Tierkot ist schließlich Dünger. Spätestens seitdem ein gewisser Justus von Liebig um 1840 entdeckte, dass man dem Boden jene Nährstoffe zurückgeben kann, die Pflanzen ihm entziehen, kam der Kunstdünger in die Welt.

Rund 25 Jahre später hatte zudem Gregor Mendel in seinem Klostergarten mit 13.000 Erbsen experimentiert und die Erbgesetze entschlüsselt. Beides zusammen, gezielte Pflanzenkreuzung und Boden-Nährstoffdoping, entfachte die sogenannte Grüne Revolution und eine wundersame Erntevermehrung.

In ihr lag auch der Keim für die Massenviehzucht, die heute "Fleischproduktion" heißt. Denn nach 1950 produzierte die Welt mehr pflanzliche Kalorien als sie verbrauchte und schickte die überschüssigen durch die Kreatur. So wurde aus Nahrung Futter.

Inzwischen essen immer mehr Menschen immer mehr Fleisch und das "Sonntagsschnitzel" fast täglich. Hauptsache billig. Die Discountfleisch-Produktion hat jedoch Folgen und verursacht an vielen Fronten gravierende Umweltschäden und auch solche für die menschliche Gesundheit. So wie die Gesellschaft für den preiswerten Atomstrom an anderer Stelle für dessen Hinterlassenschaften zur Kasse gebeten wird, verhält es sich auch beim Schnitzel.

Das Dilemma: Einst hielt ein Landwirt nur so viele Tiere, wie er mit Futter von der eigenen Fläche versorgen konnte. Auf der ließ er dann auch die anfallende Gülle "regnen", was umweltverträglich die Pflanzen düngte. Inzwischen ist alles anders: Es existieren Viehbestände an einem Ort, dessen Weiden sie nicht ernähren können.

Das fehlende Futter wird importiert, möglichst eiweißreiches wie Sojabohnen und -schrot. In der EU sind das 63 Kilogramm pro Einwohner und Jahr - allein für die Tiermast. Nur 20 Prozent ihres Futterbedarfs kann die EU selbst decken. "Unsere Tierproduktion basiert auf Fernfütterung", sagt der Grünen-Europa-Abgeordnete Martin Häusling, "das ist ein unhaltbarer Zustand."

Cloppenburg: 147.000 Einwohner, mehr als 15 Millionen Nutztiere

Davon einmal abgesehen, dass der Soja-Import in einer Welt der Mangelernährung und Regenwald-Abholzung zur Schaffung von Soja-Anbauflächen globale Probleme verschärft, entstehen durch die Massentierzucht hohe "Ausscheidungsberge" aus Kot und Harn, die Ökosysteme überfordern. Etwa fünf Liter Gülle entstehen für ein 200-Gramm-Schnitzel. Das ist eigentlich kein Problem, denn die Exkremente enthalten wertvolle Nährstoffe - Stickstoff, Phosphor, Kalium.

Doch der ökologisch verträgliche Stoffkreislauf ist dahin: zu viele Rinder, Hühner, Puten und Schweine hinterlassen zu viele Exkremente. Kurzum: zu viel des Guten für die Böden und Pflanzen. Es ist nicht anders, als es Paracelsus (1493-1541) schon für die menschliche Gesundheit erkannte: "Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, ob ein Ding ein Gift ist."

Das sehen die Wasserwerker auch so: Zu viel Gülle ist Gift für das Grundwasser, aus dem Deutschland zu 61 Prozent sein Trinkwasser gewinnt. Der Fleischtrend hat den Düngereintrag seit 1950 etwa verzehnfacht. Zwar wurden auch Pflanzen gezüchtet, die Stickstoff effizienter aufnehmen, doch das hat das Grundproblem nicht aus der Welt geschafft.

Aus Stickstoff entsteht im Boden Nitrat. Wird die Erdkrume durch zu viel Gülle überfordert, sickern die Nitrate mit Niederschlägen oder Schneeschmelze ins Grundwasser. Bakterien im und außerhalb des menschlichen Organismus verwandeln Nitrat in Nitrit, und ab hier besteht ein Risiko: zum Beispiel für Säuglinge. Das Nitrit behindert den Sauerstofftransport durch die roten Blutkörperchen.

Dies kann zu Sauerstoffmangel im Gewebe führen - bis zur Erstickung (Blausucht). Im erwachsenen Organismus kann Nitrit mit Aminen zu Nitrosaminen reagieren. In Tierversuchen sind Nitrosamine als krebserregend identifiziert. Deshalb hat die EU vor 16 Jahren ihren Mitgliedsstaaten eine Nitrat-Richtlinie vorgegeben: nicht mehr als 50 Milligramm Nitrat pro Liter Wasser.

Deutschland hat das zu lange zu lax gehandhabt. Auch als 2012 die EU, nachdem immer mehr Nitrat-Messungen in deutschen Grundwasserkörpern SOS gefunkt hatten, einen Warnschuss sendete, blieb die deutsche Politik untätig.

Beispiel Nordrhein-Westfalen: 18 Millionen Menschen, 24 Millionen Hühner, 7,89 Millionen Schweine, 1,5 Millionen Rinder. Auch in anderer Hinsicht liegt NRW im Trend: Immer weniger Viehbetriebe, aber immer mehr Nutztiere. Die EU begünstigt durch ihre Subventions-politik große Agrarfabriken und nicht Bauernhöfe. Andererseits taugt die EU nicht als Feindbild, denn sie beschließt nichts ohne nationale Zustimmung.

Doch NRW hat "nur" rund doppelt so viele Nutztiere wie Menschen. Im Landkreis Cloppenburg, Spitzenreiter Deutschlands in Sachen Viehdichte, sind es 95 Mal so viele. In Zahlen: 147.000 Einwohner, 3000 Landwirte, 1,85 Millionen Schweine, 178.000 Rinder, 13 Millionen Geflügel-Zweibeiner. Nicht unerwartet liegen die deutschen Grundwasser-Nitrat-Hotspots im Dreieck zwischen Cloppenburg, Oldenburg und Vechta. Trotz Biogas-Anlagen, trotz Gülle-Export.

Die Überdüngung einzelner Flächen ist vor diesem Hintergrund geradezu zwangsläufig. Folgen: Böden versauern, die Artenvielfalt schrumpft. Gelangt das Zuviel an Nährstoffen in Oberflächengewässer, etwa Seen und Flüsse, entstehen zuweilen Algenblüten und im nächsten Schritt Sauerstoffnot und Massensterben. Wenn ein See "kippt", ist genau das gemeint. Dabei geht es nicht nur um das Phosphat in der Gülle, sondern auch aus Wasch- und Geschirrspülmitteln. Seit 2013 sind in der EU Phosphate als Waschmittelzusatz verboten.

Einen kreativen Ausweg aus der Gülle-Sackgasse zeigt die Wertschöpfungskette von Oberndorf. Dem 1400-Einwohner-Ort im Kreis Cuxhaven geht es nicht anders als anderen Dörfern: Immer mehr In-frastruktur verschwindet. Die Sparkasse ist seit Kurzem weg, der Schlachter auch. Die Grundschule hat 2014 dicht gemacht, die Kneipe schon vor Ewigkeiten. Doch die Leute wollten sich damit nicht abfinden. "Wir lassen unser Dorf nicht sterben", sagt Bewohner Bert Frisch - "das Dorf war wütend." So kam die Idee mit der Gülle. Sie hat Oberndorf neues Leben eingehaucht.

Schritt eins: Gründung einer Bürger-Aktiengesellschaft, der Ostewert AG. "Gülle gibt es hier in Hülle und Fülle", sagt Ostewert-Vorstand Markus Haastert. "Jeder Landwirt ist froh, wenn er sie loswird." Aktionäre: vor allem Menschen aus dem Ort. Auch Bedenkenträger gab es, aber nur wenige.

Schritt zwei: Die AG errichtete eine Biogasanlage. Bauern liefern jetzt 15 Tonnen Gülle täglich. Die Anlage wird 20 Jahre gefördert, jede Kilowattstunde wird hoch vergütet.

Schritt drei: die Erweiterung der Wertschöpfungskette. Mit der Abwärme der Biogasanlage betreiben sie eine Fischzuchtanlage. In den blauen Becken tummeln sich etwa 20.000 afrikanische Raubwelse im 28 Grad warmen Wasser. "Das ist der einzige aquakulturfähige Fisch, der ohne Antibiotika auskommt", sagt Haastert. Der Verkauf des Speisefisches verläuft vielversprechend. Weil der afrikanische Raubwels noch wenig bekannt ist, liefern die Oberndorfer die Rezepte gleich mit.

Schritt vier ist noch nicht vollzogen, aber angedacht, denn auch afrikanische Welse haben ihre Ausscheidungen. Eben Fischgülle. "Der Kot der Fische wäre auch ein hervorragender Dünger für den Gemüse- und Obstanbau", sagt Haastert.

Die bizarre und erfolgreiche Oberndorfer Geschäftsidee hat auch die Hamburger Filmemacherin Antje Hubert fasziniert. Sie begleitete die Dorfbewohner drei Jahre lang mit der Kamera. Ihr Dokumentarfilm ist im März in den deutschen Kinos angelaufen. Er heißt "Von Bananenbäumen träumen". Das spielt auf den Fischkot an. Hubert sagt: "Die Bananen sind ein Sinnbild dafür, dass nichts unmöglich ist." Es muss ja weitergehen mit der Wertschöpfungskette und mit Oberndorf.

Doch nicht überall in deutschen Gülle-Notstandsgebieten regiert ein solch kreativer Geist. Ein anderer Ausweg aus der Jauche-Mist-Sackgasse firmiert unter "Gülle-Tourismus" oder - vornehmer - Nährstoffbörse. Wer braucht Naturdünger, der auch "Wirtschaftsdünger" oder "Frischmasse" heißt?

Deshalb wird die Stinkebrühe, in harmloser Konzentration auch "frische Landluft" genannt, quer durch die Republik gekarrt - aus Überschussgebieten in solche, wo Bauern, etwa in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg, Nährstoffbedarf haben. Zudem ist Gülle preiswerter als Kunstdünger. Meist fahren die Tanklaster oder Frachtschiffe von Westen nach Osten und von Norden nach Süden. Das spiegelt das geographische Gefälle in der Viehdichte.

Gülle-Notstand: "In einigen Teilen Deutschlands wird er durch den Import von weiterem Wirtschaftsdünger aus dem Ausland zusätzliche verstärkt", heißt es in einem Gutachten für den Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).

So wird niederländische Gülle mal kurz über die Grenze gefahren. 2013 gelangten nach Angaben der Landwirtschaftskammer NRW rund 1,4 Millionen Tonnen Gülle nach Nordrhein-Westfalen, was "rund neun Prozent der in NRW selbst erzeugten Stickstoffmenge aus Wirtschaftsdünger entspricht".

Die Bewohner in einigen Empfängergebieten gehen inzwischen auf die Barrikaden. Beispiel Grafschaft. Die "Bürgerinitiative gegen indu-strielles Güllelager und Massentierhaltung in Wohnortnähe" läuft Sturm gegen ein geplantes Güllelager, das in Gelsdorf errichtet werden soll.

Kreis und Gemeinde wollen es auch nicht, aber die Richter in der ersten gerichtlichen Instanz sahen es anders. Nun geht es womöglich vor das Oberlandesgericht Koblenz. Das umstrittene Güllelager soll 5,5 Millionen Liter umfassen, was etwa den Exkrementen aus 220 Tonnen Fleischproduktion entspricht oder dem Jahres-Fleischverbrauch von 2650 Bundesbürgern - rechnerisch vertilgt jeder Deutsche rund 83 Kilo Fleisch pro Jahr.

Ulrich Hermanns, Chef der Bürgerinitiative, sagt: "Die Agrarlobby preist diese Gülle als wertvollen Dünger an, wir nennen es Sondermüll, der auf Ackerböden verklappt wird." Auch gebe es Restrisiken wegen der Antibiotika-Resistenzen.

Die Forderung: "Kein Import von Sondermüll aus Massentierställen in unserer Region." Hermanns: "Wir protestieren gegen Agrarindustrie und Landwirtschaftslobby und nicht gegen die Höfe mit familiärer kleinbäuerlicher Struktur und ihrer Kreislaufwirtschaft."

Letztlich helfe nur eine Neuausrichtung der Agrar- und Subventionspolitik und eine Gesetzgebung, die den Schutz der Bevölkerung, der Natur, der Nutztiere und der kleinbäuerlichen Landwirtschaft fördere. Das fordern viele, auch Tierschützer, aber die gewählten Politiker steuern weiter Richtung Agrarfabriken und Fleisch zum Discountpreis. Wohl auch deshalb, weil der Verbraucher sich täglich für "billig" entscheidet.

Nitrate: Bonner Trinkwasser bleibt unbedenklich

Nun beginnen unfreiwillig, getrieben von einer EU-Klage gegen Deutschland, Vorbeugung und Reparatur. Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt sagte zum neuen Güllegesetz: "Der Dünger muss bei den Pflanzen ankommen, aber nicht im Grundwasser - das neue Düngerecht schützt vor Überdüngung." Abwarten.

Das können die Wasserwerker nicht. Sie müssen eine Güllefolge vor dem Bürger fernhalten. Vergangene Woche meldeten sie sich zu Wort: Um bis zu 62 Prozent könnte sich die Jahreswasserrechnung durch den zusätzlichen Nitrat-Reinigungsaufwand erhöhen, prophezeit Martin Weyand, BDEW-Hauptgeschäftsführer. "Wir machen uns große Sorgen um den Zustand des Grundwassers", sagt er, denn das sei "die wichtigste Ressource, die wir haben". Bonn ist einstweilen nicht betroffen.

Die Stadtwerke berichten auf ihrer Homepage: "Der Nitratgehalt im Trinkwasser erreicht maximal 20 Milligramm pro Liter. Dieser Wert ist auch für Säuglinge und Kleinkinder unbedenklich."

Vor Gericht, das zeichnet sich ab, wird es für Landwirte auch ungemütlicher. Ein Landwirt war bis vor das Oberlandesgericht Hamm gegangen, um sich auf höhere Gewalt zu berufen. Doch die Richter blieben unnachsichtig: Der Bauer muss für die von seinem Gülle-GAU verursachten Schäden haften. Von seinem Hof in Halver waren im März 2015 rund 1,7 Millionen Liter Gülle in die Neye-Talsperre, ein Trinkwasser-Reservoir, geflossen.

Abgesehen vom Fischsterben in angrenzenden Bächen mussten Millionen Liter Jauche umgeleitet und gereinigt werden. Der örtliche Wasserversorger präsentierte eines Tages die Rechnung: 214.000 Euro.

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