Ganz allein mit dem nackten Problem

Für den Bonner Professor Don Zagier ist Mathematik wie Musik: Die unwiderstehliche Anziehungskraft kann er mit Worten nur schwer beschreiben - Am 11. Mai wird seine Arbeit ausgezeichnet

Bonn. Professor Don Zagier vom Bonner Max-Planck-Institut für Mathematik erhält am 11. Mai für seine bahnbrechenden Arbeiten zur Zahlentheorie den Karl Georg von Staudt-Preis. Mit Zagier sprach Johannes Seiler.

General-Anzeiger: Waren Sie schon als Schüler gut in Mathematik?

Don Zagier: Bis zu meinem achten oder neunten Lebensjahr war ich in allen Schulfächern extrem schlecht. Dann hat man erkannt, dass ich Überdurchschnittliches leisten könnte. Die Schule schlug mir vor, ein Jahr zu überspringen. Der Unterricht machte mir wieder viel mehr Spaß, ich übersprang jedes zweite Schuljahr.

GA: Viele Schüler meinen, Mathe ist langweilig und kaum zu begreifen. Was fasziniert Sie an diesem Fachgebiet?

Zagier: Auf mich übt Mathematik eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Zugegeben: Schulmathematik ist nicht so spannend. Aber mit zehn oder elf Jahren entdeckte ich, dass man selber kleine Entdeckungen machen kann und Beweise führen. Mathematik macht süchtig: Das Gefühl, dass man völlig allein und nur mit dem eigenen Kopf ein Problem lösen kann - ohne große Geräte, allein mit dem nackten Problem. Das ist wie Sport: Natürlich kann ein Flugzeug schneller fliegen als man selber laufen kann. Das Entscheidende aber ist, es ohne Hilfsmittel zu machen.

GA: Sie sind in Heidelberg geboren und in den USA aufgewachsen. Bereits mit 13 Jahren machten Sie dort Ihren High-School-Abschluss. Lag das Tempo am amerikanischen Schulsystem?

Zagier: Das Schulsystem erlaubte eigentlich nicht, Klassen zu überspringen. Es war eine Ausnahme, dass mir die Schule das anbot. Allerdings nur unter der Bedingung, dass ich sämtliche Klassen tatsächlich belegte. Das war nur zu schaffen, indem ich gleichzeitig Sommerkurse, Abendkurse und Fernkurse besuchte.

GA: Also ein 24 Stunden-Arbeitstag?

Zagier: Nein. Amerikanische Schulen sind nicht besonders hart.

GA: Mit Vollgas ging es weiter: Mit 16 Jahren machten Sie ihr Diplom, mit 19 waren Sie Doktor und mit 24 angeblich Deutschlands jüngster Professor.

Zagier: Meine Eltern übersiedelten in die Schweiz. Ich konnte ihnen aber nicht folgen, weil ich mit 15 Jahren zu jung für eine europäische Hochschule war. Deshalb studierte ich am MIT (Massachusetts Institute of Technology) in Boston. Ich hatte Heimweh nach meinen Eltern. Das war für mich auch ein Grund, die Universität möglichst schnell zu absolvieren. Ein Doppeldiplom - Mathematik und Physik - in zwei Jahren zu machen, war sehr hart. Dann war ich zwei Jahre lang als Doktorand in Oxford. Mein Doktorvater war Friedrich Hirzebruch - Bonner Professor und später Gründer des Max-Planck-Instituts für Mathematik. Nach weiteren eineinhalb Jahren in Bonn beendete ich mit 19 Jahren meine Doktorarbeit. Kurz vor meinem 24. Geburtstag habe ich mich hier habilitiert. Da ich in diesem Alter nicht verbeamtet werden konnte, wurde ich zum außerplanmäßigen Professor - ohne Gehaltsanspruch - ernannt. Zunächst hatte ich eine von der DFG bezahlte Forscherstelle in Bonn.

GA: Bis Sie einer der vier Direktoren des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn wurden, vergingen etliche Jahre. Verlief Ihr Leben von 1995 an in etwas ruhigeren Bahnen?

Zagier: Nach den Diplomen jagte ich nicht mehr nach Rekorden. Ich beschäftige mich nun hauptsächlich mit Mathematik.

GA: Am 11. Mai bekommen Sie den Karl Georg von Staudt-Preis. Hatten Sie damit gerechnet?

Zagier: Ich war total überrascht.

GA: Der Preis ist mit 120 000 Mark dotiert. Was soll mit der stattlichen Summe geschehen?

Zagier: Nein, das weiß ich noch nicht genau. Da ich liebend gerne Klavier spiele, werde ich vielleicht einen Teil davon für einen Flügel verwenden.

GA: Wenn Sie auf einer Party nach Ihrem Beruf gefragt werden, was antworten Sie dann? Haben Sie Mühe mit der Reaktion der anderen?

Zagier: Es gibt nichts, was die Leute nervöser macht als ein Gespräch mit Mathematikern oder Psychiatern - meine Schwester ist Psychiaterin. Meine typische Antwort: Ich hoffte, Sie würden mich nicht danach fragen. Es ist schwer, zu vermitteln, mit was sich Theoretische Mathematiker inhaltlich beschäftigen. Stellen Sie sich vor, ein Musiker sollte jemandem - der noch nie Musik erlebt hat - mit blanken Worten erklären, was an seinem Beruf interessant ist. Mathematik ist in den Medien kaum vertreten, weil sie schwer zu vermitteln ist. Und weil man kaum etwas über Mathematik liest, wissen die meisten auch nur wenig darüber. Über das Human Genom Projekt wird viel in Zeitungen veröffentlicht, über Mathematik so gut wie nichts.

GA: Können Sie Ihr Forschungsgebiet in wenigen Sätzen darstellen?

Zagier: Ich beschäftige mich mit der Theorie der elliptischen Kurven und Modulformen. Dabei geht es um Gleichungen. Die Frage ist: Kann ich solche Gleichungen lösen? In diesem Fall funktioniert es mit der Addition von sieben Drittel und zwei Drittel. Doch Ziel ist nicht nur diese eine Lösung, sondern eine komplette Theorie. Das sieht trivial aus, doch das Problem ist enorm vertrackt.

GA: Zeichnet sich für eine Ihrer mathematischen Entdeckungen eine Anwendung ab?

Zagier: Überhaupt nicht. Aber viele Erkenntnisse aus den elliptischen Kurven fließen in Verschlüsselungsmethoden ein - sei es für Kreditkarten oder E-Mails - sowie für Fehler korrigierende Codes, mit denen sich unvollständige Nachrichten rekonstruieren lassen. Theoretische Mathematiker forschen nicht, weil sie eine Anwendung im Blick haben. Und doch glaube ich, dass unsere Theorien irgendwann nützlich sind. Es gibt viele Belege dafür, dass einige Zeit nach einer abstrakten Entdeckung dafür eine Anwendung gefunden wurde - teilweise erst 50 oder 100 Jahre später. Ein Beispiel ist die Radon-Transformation, mit der sich auch Röntgenstrahlen beschreiben lassen, die einen Körper durchdringen. Ohne sie gäbe es heute keine Computertomographie.

GA: Sie erhielten einen Ruf vom Collège de France in Paris. Werden Sie auch weiterhin dem Max-Planck-Institut zur Verfügung stehen?

Zagier: Ich gehe nicht von hier weg, sondern werde gleichzeitig für das Collège de France und das Max-Planck-Institut tätig sein. In Bonn bin ich zu Hause.

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