Kosmische Geisterfahrer

Kleine Galaxien begleiten die Milchstraße durch das Weltall. Nach der gängigen Lehrmeinung haben sie sich in einem frühen Stadium des Universums gebildet und wurden dann als "Tramper" mitgenommen.

 Eine Galaxie rast wie eine Kreissäge senkrecht in eine andere: So wie in dieser künstlerischen Darstellung könnte das kosmische Spektakel aus großer Entfernung aussehen.

Eine Galaxie rast wie eine Kreissäge senkrecht in eine andere: So wie in dieser künstlerischen Darstellung könnte das kosmische Spektakel aus großer Entfernung aussehen.

Foto: GARTH ILLINGWORTH

Bonn. Kleine Galaxien begleiten die Milchstraße durch das Weltall. Nach der gängigen Lehrmeinung haben sie sich in einem frühen Stadium des Universums gebildet und wurden dann als "Tramper" mitgenommen.

Forschungsergebnisse einer Arbeitsgruppe um Professor Pavel Kroupa von der Universität Bonn deuten nun darauf hin, dass diese "Mitfahrer" die Überreste eines gigantischen Crashs von Galaxien sein könnten. Unsere Milchstraße ist umgeben von etwa 24 kleineren Galaxien, den "Satellitengalaxien".

Sie umkreisen die Milchstraße und wandern gemeinsam mit ihr durchs All. Ihre Herkunft ist umstritten. Im gängigen Bild der Wissenschaft bestehen sie hauptsachlich aus Dunkler Materie - unsichtbarer Substanz, die aufgrund ihrer Masseanziehung die Ansammlungen aus Sternen zusammenhalten soll. Die Satellitengalaxien hätten sich demnach bereits im frühen Universum gebildet und wurden später von der Milchstraße eingefangen.

Diese Hypothese steht seit einiger Zeit unter Beschuss: Die "Satelliten" sind nicht gleichförmig um die Milchstraße verteilt, sondern bilden eine riesige Scheibe um sie herum, in der sie sich auch zu bewegen scheinen. Die Scheib e steht zudem senkrecht zur Galaxie. "Dies alles ist im Standardmodell der Kosmologie nicht vorgesehen", sagt Kroupa, der am Argelander-Institut für Astronomie der Universität Bonn forscht.

Das Standardmodell geht vom Urknall aus, nach dem sich das Weltall immer mehr ausdehne. "Dabei entstehen unzählige Kleingalaxien, welche entweder zu großen Galaxien zusammenschmelzen oder als Satellitengalaxien übrigbleiben."

Die Ergebnisse der Bonner Astronomen deuten nun in andere Richtung: In dem alternativen Szenario kollidierten vor etwa zehn Milliarden Jahren zwei junge Scheibengalaxien. Eine der Galaxien raste senkrecht (ähnlich einer Kreissäge) in die noch junge Milchstraße und wurde dabei förmlich zerfetzt. Aus diesem "Galaxienschrott" könnten sich neue Sternsysteme ("Gezeitenzwerggalaxien") gebildet haben, die heute noch als Satellitengalaxien zu beobachten sind.

Tatsächlich sind viele solcher Galaxienkollisionen bekannt. Diesen kosmischen Crash der jungen Milchstraße haben die Astronomen im Computer modelliert. Das Projekt umfasste knapp 100 simulierte Galaxienkollisionen und verschlang insgesamt zwei Monate Rechenzeit.

"Wir konnten zeigen, dass solch eine Kollision die Anordnung der Satellitengalaxien in einer Scheibe und außerdem deren Bewegung um die Milchstraße erklärt", erläutert Marcel Pawlowski, Doktorand von Kroupa und Mitglied der Bonn-Cologne Graduate School of Physics and Astronomy.

Eine besondere Rolle spielen hierbei "Geisterfahrer". Während sich die meisten Satellitengalaxien offenbar in der selben Richtung um die Milchstraße bewegen, gibt es mindestens eine Galaxie (sie heißt "Sculptor"), die entgegengesetzt unterwegs ist.

Bislang war nicht bekannt, ob solche gegensätzlichen Umläufe in einer Galaxienkollision entstehen. "Wir konnten erstmals nachweisen, dass gegenläufige Orbits im Galaxien-Schrott offenbar ganz normal sind und auch erwartet werden", sagt Pawlowski.

Die Auswirkungen der Ergebnisse sind weitreichend. "Weil mittlerweile viele Indizien für diesen kosmischen Urcrash sprechen, kristallisiert sich immer klarer hervor, dass die Standardkosmologie praktisch ausgeschlossen wird", betont Kroupa. Die Bildung von Gezeitenzwerggalaxien sei ein natürlicher Prozess, der im Universum beobachtet wird. "Wir können also sicher sein, dass Gezeitenzwerggalaxien entstehen", sagt Kroupa.

Gleichzeitig müsste es aber nach dem Standardmodell auch kosmologische Zwerggalaxien mit völlig anderen Eigenschaften geben. "Man sieht aber nur eine Art von Zwerggalaxien. Diesen Widerspruch kann man nur auflösen, wenn man das kosmologische Modell verändert." ga

M.S. Pawlowski, P. Kroupa, K.S. de Boer: Making Counter-Orbiting Tidal Debris. The Origin of the Milky Way Disc of Satellites. Astronomy & Astrophysics. Im Internet unter http://arxiv.org/abs/1106.2804

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