"Meilenstein in der Gedächtnisforschung"

Bonner Wissenschaftler entdecken einen "Schalter", der über Erinnern und Vergessen entscheidet: Der Mensch merkt sich Dinge, wenn zwei bestimmte Gehirn-Areale gleich schwingen

Bonn. Wo liegt jetzt wieder die Brille? Wie heißt nochmal der neue Nachbar? Typische Alltagssituationen: Viele Dinge vergessen wir, andere Informationen finden erst gar keinen Zugang zu unserem Gehirn.

Irgendwo muss es also eine mysteriöse Schaltstelle geben, die darüber entscheidet, an welche Gesichter wir uns nach dem Partybesuch erinnern oder welche Telefonnummer wir nie vergessen. Zwar hat die Forschung in den vergangenen Jahren entscheidende Fortschritte gemacht, doch das menschliche Gehirn birgt nach wie vor viele Geheimnisse.

Wissenschaftler der Bonner Uniklinik für Epileptologie sind nun einem Schalter auf der Spur, der offenbar über die Daten-Einspeisung ins Faktengedächtnis bestimmt.

Aktives "Seepferdchen"

Die Ärzte Jürgen Fell und Guillen Fernández untersuchten bei Epilepsie-Patienten die Aktivitäten zweier benachbarter Hirnregionen. Es handelt sich dabei um Strukturen im Schläfenlappen: Der so genannte Hippokampus - wegen seiner Form "Seepferdchen" genannt - und der rhinale Kortex. "Immer dann, wenn die Hirnströme der beiden untersuchten Regionen genau im Gleichtakt waren, konnten sich die Probanden besonders gut erinnern", berichtet Fell.

Dieser Prozess verläuft blitzschnell: In wenigen Zehntelsekunden. Hippokampus und rhinaler Kortex spielen für das Gedächtnis ein herausragende Rolle. Verletzungen der Strukturen führen beim Menschen dazu, dass er keine neuen Erinnerungen mehr speichern kann.

Deshalb nahm die Arbeitsgruppe für kognitive Neurophysiologie unter Leitung von Guillén Fernández diese Hirnregion genauer unter die Lupe. Studien anderer Forscher lieferten dem Bonner Team wichtige Anhaltspunkte. "Im rhinalen Kortex werden verschiedene Aspekte eines wahrgenommenen Objektes zusammengeführt und an den Hippokampus weitergeleitet, der die Überführung ins Faktengedächtnis bewerkstelligt", erläutert Fell.

Allerdings mussten sich die Wissenschaftler einen Kniff einfallen lassen, um dieses blitzschnelle Ereignis überhaupt beobachten zu können. "Normale Oberflächenelektroden an der Schädeldecke schieden aus, weil die Strukturen tief im Schläfenlappen verborgen sind", erklärte Fell. Die beiden Strukturen liegen außerdem lediglich 15 Millimeter voneinander entfernt und erschweren die getrennte Messung der Hirnströme.

Die Ärzte nutzten jedoch besonders tiefreichende Elektroden, die üblicherweise dazu dienen, vor einer Operation den Epilepsie-Herd zu lokalisieren. Das Team führte seine Tests deshalb an neun Patienten durch, denen diese Elektroden bereits in die betreffenden Hirnregionen eingepflanzt worden waren.

Das Experiment selbst lief in Schritten ab. Auf einem Monitor erschienen den Testpersonen zwölf Worte, die sie sich einprägen sollten. Zur Ablenkung mussten sie anschließend eine einfache Rechenaufgabe lösen. Dann fragten die Forscher ab, an wie viele Worte sie sich noch erinnern konnten. Parallel zeichneten sie die Hirnströme von Hippokampus und rhinalem Kortex auf.

Zwanzig Mal wiederholten die Wissenschaftler diese Abfolge. "Waren beide Gedächtnisregionen synchronisiert, war auch das Erinnerungsvermögen deutlich erhöht", fasst Fell zusammen. Der Wissenschaftler ist überzeugt davon, dass sich die an den Epilepsie-Patienten erhobenen Ergebnisse allgemein auf das menschliche Gehirn übertragen lassen. "Wir untersuchten bei den Testpersonen auch die gesunden Schläfenlappen."

Die Untersuchungen befinden sich im Stadium der Grundlagenforschung: Superhirne werden sich also durch künstliche Synchronisation der beiden Hirnlappenstrukturen auf absehbare Zeit nicht erzeugen lassen. Außerdem entscheiden noch weitere Faktoren über die Einspeisung ins Faktengedächtnis: bestimmte Gehirnareale - beispielsweise der Mandelkern - oder auch die Ereignisse selbst. "Sie prägen sich umso besser in unser Gedächtnis ein, je emotionaler sie behaftet sind", erklärt Fell.

Die Studie wird im Dezember-Heft der Fachzeitschrift "nature neuroscience" erscheinen ( www.verwaltung.uni-bonn.de/presse/gedaechtnis.pdf). Der amerikanische Wissenschaftler Anthony Wagner vom Massachusetts Institute of Technology bezeichnete die Arbeit des Bonner Teams jedenfalls als "Meilenstein in der Gedächtnisforschung".

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