"Alarmsignal" Pflanzen erobern durch Klimawandel Berggipfel

Nürnberg · Aufmerksame Bergsteiger könnten in diesem Sommer auf den Gipfeln Pflanzen entdecken, die man dort früher nicht gefunden hat. Durch die Erderwärmung siedeln sich in den Höhen immer schneller neue Arten an. Ein gutes Zeichen ist das nicht.

 Davos: Alpenrispengras (Poa alpina) ist die "erfolgreichste Art". Sie war früher auf 84 Gipfeln zu finden und ist heute auf 162 Gipfeln zu finden.

Davos: Alpenrispengras (Poa alpina) ist die "erfolgreichste Art". Sie war früher auf 84 Gipfeln zu finden und ist heute auf 162 Gipfeln zu finden.

Foto: Veronika Stöckli/FAU/dpa

Arnika, Alpen-Löwenzahn, Alpen-Rispengras: Auf europäischen Berggipfeln siedeln sich immer mehr Pflanzen an, die es dort früher nicht oder nur selten gab.

"Und dahinter steckt der Klimawandel", sagt Manuel Steinbauer von der Universität Erlangen-Nürnberg (FAU). "Durch die Zunahme der Temperatur können sich neue oder mehr Arten auf den Gipfeln etablieren."

In einer Studie haben mehr als 50 Forscher aus elf Ländern rund um Steinbauer und Sonja Wipf vom Schweizer Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) nachgewiesen, dass die Artenvielfalt auf Gipfeln in ganz Europa ansteigt. "Und die Etablierung von neuen Arten beschleunigt sich mit der Zeit", sagt Steinbauer. In diesem Jahrzehnt - 2007 bis 2016 - haben sich auf den Bergen fünfmal so viele Arten neu etabliert wie im gleichen Zeitraum vor 50 Jahren.

Grund dafür sei die Klimaerwärmung, die sich ebenfalls immer mehr beschleunigt hat. Je stärker die Erwärmung auf einem Gipfel war, desto mehr hat dort auch die Zahl der Pflanzenarten zugenommen. "Es ist das erste Mal, dass man eine solche beschleunigte Reaktion auf den Klimawandel für alpine Lebensräume nachweisen kann", sagt Wipf. Bisher sei dies vor allem von unbelebten Systemen wie etwa Gletschern bekannt.

Die Wissenschaftler zählten die Pflanzenarten auf 302 Berggipfeln in den Alpen, Pyrenäen, Karpaten sowie in schottischen und skandinavischen Gebirgen. Ihre Aufzeichnungen verglichen sie mit älteren Erhebungen auf denselben Gipfeln. Dadurch können die Forscher die Entwicklung über 145 Jahre nachvollziehen. Der Vergleich ist hier einfacher als an anderen Orten, "weil ein Gipfel eindeutig definiert ist", wie Steinbauer sagt. Die Forscher vor 100 Jahren hätten meist sehr genau gearbeitet und exakte Aufzeichnungen hinterlassen - "teilweise sogar mit dem Ziel, dass nachfolgende Forscher die Untersuchungen wiederholen können".

Der erfolgreichste Gipfelstürmer ist das Alpenrispengras. Früher war die unauffällige Pflanze auf 84 Gipfeln zu finden. Heute wächst sie auf 162 Gipfeln. Höchster Fundort war früher auf knapp 3300 Metern, heute ist das Gras in einer Höhe von mehr als 3500 Metern zu finden - auf dem Rocciamelone in den Alpen westlich von Turin (Italien). Oder Arnika: Früher gab es die gelben Blüten, die Wanderer von Bergwiesen kennen, auf keinem einzigen Gipfel aus dem Datensatz der Forscher. Heute wächst sie auf 14 Gipfeln. Steinbauer berichtet zudem von drei Alpengipfeln, auf denen es in den ersten Erhebungen um das Jahr 1920 gar keine Pflanzenarten gab. Jetzt gibt es dort jeweils mehr als zehn.

"Wenn man einen Gipfel hat, auf dem vorher keine Art war und jetzt finden wir 15, ist da erst einmal nichts Negatives dabei", sagt der Forscher. "Kritisch sind eher die Gipfel mit hochalpinen Spezialisten, die langfristig potenziell verdrängt werden." Diese Pflanzen haben sich an die rauen Bedingungen auf den Bergen perfekt angepasst, wachsen etwa in den engsten Spalten und bei Kälte. Die neuen Gipfel-Arten, sind tendenziell größer und somit konkurrenzstärker sowie auch wärmeliebender als die ursprünglichen.

Und es gibt bereits Verlierer: Die Verbreitung des Bayrischen Enzians etwa hat im Gegensatz zu den meisten anderen Arten etwas abgenommen. Da er vor allem auf gutem, humusreichem Boden wächst, bekommt er Konkurrenz von unten. "Die Sorge ist durchaus berechtigt, dass Arten verdrängt werden", sagt Steinbauer. Das haben die Forscher in dieser Studie aber nicht untersucht, denn das ist statistisch noch einmal deutlich komplizierter. "Aber wir arbeiten gerade an der Fragestellung, ob wir konkret schon ein Aussterben beobachten."

Steinbauer betont, obwohl die Gipfel fernab der menschlichen Zivilisation seien, sehe man hier "einen direkten, messbaren Effekt des durch den Menschen verursachten Klimawandels auf die Vegetation". Und der Effekt sei enorm. "Das trifft alle anderen Systeme auch - nur wir können es auf den Gipfeln besonders gut nachweisen."

Auch für Wolfgang Lucht vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist die im Fachmagazin "Nature" veröffentlichte Studie ein "Alarmsignal". "Wir hören oft vom Anstieg des Meeresspiegels und der Eisschmelze, die man heute schon sehen kann. Aber noch wichtiger ist, was mit den Ökosystemen passiert - also der Umwelt, in der wir leben, mit all ihren Lebewesen - und das wird meiner Ansicht nach viel zu wenig diskutiert", sagt der Erdsystem-Wissenschaftler.

Die Studie zeige "eine äußerst besorgniserregende" Entwicklung, die allen Ökosystemen bevorstehe, wenn der Klimawandel ungebremst weiterläuft: "Man sieht, dass die Ökosysteme in Bewegung geraten - und zwar massiv." Diese komplizierten Netzwerke des Lebens könnten sich zwar an manche Veränderungen anpassen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Danach bestehe die Gefahr von "Umstrukturierung, Verdrängung, Aussterben". Lucht sagt: "Es wird tiefgreifende Verluste geben im Wandel, weil die Veränderung für viele Arten zu schnell geht." Das heiße nicht, "dass nachher alles ausstirbt oder überall die Wüste kommt. Aber die Erde wird nicht mehr diejenige sein, die wir kennen", sagt Lucht.

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