Trainingsplatz für den Alltag

Im Reich der Pokémons finden Kinder ihre eigene Welt, in der sie ohne Hilfe der Erwachsenen auskommen - Pädagogen raten Eltern zu Gelassenheit

Köln. Eltern sind verstört und verstehen ihre Kinder nicht (mehr). Und so manche Lehrerin wünscht sich, ihre Schüler und Schülerinnen könnten genauso schnell die unregelmäßigen Verben lernen wie sie Pikachu, Glutexo und Gluarak, Schiggy, Schillok und Turtok aufsagen - so die aberwitzigen Namen dieser Kunstwesen mit noch aberwitzigerem Aussehen und höchst seltsamen Eigenschaften.

Angesichts des weltweiten Pokémon-Fiebers könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Firma Nintendo ihren Werbeslogan "Schnapp sie Dir alle" erreicht hat. Millionen von Kindern haben sich "ihre" Pocketmonster geschnappt und sind in deren Welt versunken.

Findige Pädagogen haben jetzt - vielleicht um Eltern und Lehrer zu beruhigen - in dieser vier mal viereinhalb Zentimeter kleinen Welt des Gameboy-Bildschirms tatsächlich erzieherische Ziele ausgemacht: Trainiert würden Gedächtnisfähigkeit, folgerichtiges Denken und vorausschauendes Planen, sagt Professor Jürgen Fritz, Experte für Spielepädagogik und Wirkungsforschung an der Fachhochschule Köln.

Andere Forscher gehen noch weiter, sehen in den kindlichen Eigenwelten, die rund um die kleinen bizarren Monster geschaffen werden, gar einen "Trainingsplatz für den Alltag", auf dem soziale Fähigkeiten, der Umgang mit Kampf, Macht und Misserfolg, aber auch mit der Monstrosität und Absurdität des Lebens geübt werden. So lauten jedenfalls die Ergebnisse tiefenpsychologischer Studien mit Kindern zwischen vier und 14 Jahren am Kölner Institut für Qualitative Markt- und Medienforschung Rheingold.

Die Pokémon-Hysterie sei eine Abgrenzung der Kinder von der Psychologik der Erwachsenen und stelle die Grundverhältnisse unserer Kultur auf den Kopf, erläutern die Forscher. Die Gameboy-Welt von Pokémon ist ein komplexes Universum, das sich entwickelt und dabei eigenen logischen Gesetzen folgt. In ihrer unentwickelten Form sind die vielen Monster gut einen halben Meter groß - eine ernstzunehmende, aber für Kinder dennoch beherrschbare Größe.

Einmal eingefangen, sind die Taschenmonster die treuesten und verlässlichsten Freunde, für die man sorgen muss, die für einen einstehen und auch kämpfen - so wie früher Lassie, Flipper oder Fury. Diese "Freunde" vervielfachen die eigenen Möglichkeiten, lassen einen wachsen und stärker werden und geben das Gefühl, geliebt und gebraucht zu werden. Es ist eine Welt nur für Kinder, die allein die Aufgaben lösen - ohne die Hilfe von Erwachsenen. Dies schafft Raum für Fantasien. Gerade hierin sieht der Pädagoge Fritz den Grund für die Faszination der Kinder.

"Pokémon ist ein Symbolspiel, das die Innenwelt der Kinder mit der Außenwelt in einer spezifisch vorgeformten Weise verbindet." Der Verbreitungsgrad der Produkte der Pokémon-Welt schafft Angleichungen und Übereinstimmungen zwischen den Kindern untereinander: Sie alle leben und denken in dieser Welt, können sich - gleichsam wie Eingeweihte - über sie verständigen und über ihre Gefühle, Stimmungen, Wünsche und Interessen austauschen. Die Charaktere der Pocketmonster entsprechen dem unterschiedlichen und wechselnden seelischen Befinden der Kinder, in deren Veränderungen finden sie sich selber wieder.

Das Eintauchen in die Pokémon-Welten "macht gute Gefühle und kann eigene Ängste vermindern, weil die angebotenen Inhalte und Themen bei den Kindern positiv besetzt sind". Dabei wählen Kinder aus der Fantasiewelt nur das aus, was für sie von Bedeutung ist. Mit der Plüschfigur des Pikachu beispielsweise könne ein kleines Mädchen sich durchaus vor Verlassensängsten schützen. "Die besonderen Eigenarten der Pokémon-Welt tragen dazu bei, dass Erwachsene zu dieser Welt keinen Zugang finden", sagt Fritz; sie wählten andere Symbole, um ihre Innenwelt der Wünsche und Gefühle mitteilbar zu machen: Automarken, Reiseziele oder Vorlieben für eine spezielle Kleidung.

Weil Pokémon keine Verankerung in der realen Welt hat, rät der Pädagoge Eltern zur Gelassenheit: Die Monster würden gehen wie sie gekommen sind, "ohne ernsthafte Schäden bei den Kindern zu hinterlassen".

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