Interview "Wir tun zu wenig für den Rest der Welt"

Bonn · Welche Welt wollen wir unseren Kindern hinterlassen? Das ist die zentrale Frage im GA-Gespräch zum neuen Jahr mit Professor Dieter Sturma von der Universität Bonn und Professor Wolfgang Wägele vom Museum Koenig.

 Dieter Sturma

Dieter Sturma

Die Natur ist das wichtigste Anliegen der Professoren Dieter Sturma und Wolfgang Wägele. Die Fragen zu den großen Themen auch darüber hinaus stellte Moritz Rosenkranz.

Herr Professor Wägele, Herr Professor Sturma, der Jahresbeginn ist immer die Zeit der guten Vorsätze. Neben den ganz persönlichen wie Abnehmen oder mehr Sport treiben: Was wären die wichtigsten?
Professor Wolfgang Wägele: Gute Vorsätze, um unsere Welt besser zu machen, setzen die Einsicht vor-aus, dass mein individuelles Verhalten hier und heute eine Auswirkung auf die ganze Welt und vor allem auf die Zukunft des Planeten hat. Ein hoher Spritverbrauch oder der gesamtgesellschaftlich hohe Fleischkonsum wirken sich auf den CO2-Ausstoß aus und das wiederum begünstigt die Erderwärmung. Ökologisches Denken fängt schon im eigenen Garten an:

Gehe ich weiter mit Gift gegen jede Blattlaus vor, oder betrachte ich die Blattlaus als ein Element der Vielfalt der Natur? Ein solches Umdenken kann zu guten Vorsätzen führen.

Die Informationen dazu sind ja auf vielerlei Kanälen verfügbar, dennoch handelt die breite Masse nicht adäquat...

Wägele: Das ist ein langsamer Prozess. Schauen Sie sich an, wie voll die Regale mit Bioprodukten selbst bei Discountern mittlerweile sind. Man muss immer wieder in die gleiche Kerbe hauen und Geduld haben, wenn man etwas verändern will. Viele Veränderungen vollziehen sich langsam. Wichtig ist, dass sie überhaupt geschehen.

Professor Dieter Sturma: Gehen wir es mal anders an - es geht um Achtsamkeit. Für sich, für die anderen und für die Umwelt. Warum sollte, erstens, derjenige, der beispielsweise raucht, sich nicht wünschen, besser auf sich acht zu geben, und es aus diesem Grund sein lassen? Die Menschen sind oft egoistisch ausgerichtet, das ist so in einer Konkurrenzgesellschaft. Und zweitens: Warum wünsche ich mir nicht etwas Gutes für andere und nehme so wahr, wie viele da überhaupt sind, denen ich etwas Gutes wünschen kann? So bekommt man sehr schnell einen anderen Blick und schließt auch die Natur in sein Verhalten mit ein. Denn die Naturperspektive zu haben ist ganz wichtig, egal ob man in der Stadt oder auf dem Land lebt.

Wobei es Städtern nicht leicht fallen dürfte, umgeben von Beton an die Natur zu denken...
Sturma: Die Perspektive ist verengt. Auch wenn ich in der Stadt lebe, oder gerade dann, hat mein Verhalten Konsequenzen für die Umwelt. Jede Kaufentscheidung im Supermarkt hat eine direkte Auswirkung darauf, wie die Märkte global funktionieren. Unsere Welt ist globalisiert, dahinter geht kein Schritt zurück. Wenn man die Menschen aber fragt, wo sie gerne ihre Freizeit verbringen, dann würden doch viele sagen: "in der Natur". Die Weite, das Grün, die frische Luft - all das hat positive Auswirkungen auf den Menschen, das ist doch unverkennbar. Aber anstatt uns gelassen auf die Natur einzulassen, erliegen wir heute dem Drang, alles kontrollieren zu wollen. Wir wollen Natur - aber beherrschbar und kontrollierbar. Warum nicht eine kleine Wildnis im eigenen Garten zulassen?

Wie wollen Sie die Menschen zu diesem Umdenken bewegen?
Sturma: Der entscheidende Punkt ist es, sich in den Augen der anderen zu sehen. Wenn ich zum Beispiel, nachdem ich meine Ethikvorlesung halte, vor dem Gebäude bei Rot über die Straße gehe und Kinder mich sehen, dann ist das doch offensichtlich falsch. Das geht nicht. Eine Hilfe dabei ist, sich in den Augen der Studierenden zu sehen, die gerade etwas von mir zum kategorischen Imperativ gehört haben. Ich meine das ganz weit gefasst: In 100 Jahren vielleicht wird man sich fragen, was unsere Generation für die kommenden Generationen hinterlassen hat. Wollen wir eigentlich als die Generation in Erinnerung bleiben, die erstmals ein klares Verständnis von der Umweltzerstörung hatte und nichts getan hat? Wenn wir diesen Blickwinkel einnehmen, wird uns sofort klar, dass eine bewusste Ausbeutung der Natur ethisch unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist.

Wägele: Diese Welt könnte eigentlich ein Paradies sein, denn wir haben alle Elemente da. Auf alten Gemälden wurde das Paradies immer mit grünen Landschaften illu-striert, in denen sich gesunde Menschen mit offensichtlich genug Freizeit aufhalten. Dieser Zustand ist auch heute machbar, wenn wir mehr auf die Umwelt achten und Arbeit besser verteilen. Denn wenn wir das tun, kann jeder Mensch arbeiten und Freizeit haben.

Sehen Sie paradiesische Ansätze in der Gegenwart?
Wägele: Natürlich. Im Vergleich zu noch vor 100 Jahren hat sich die Gesundheit im Allgemeinen verbessert, die Menschen werden immer älter. Der moderne westliche Mensch hat alle Optionen: Ein moderner Supermarkt ist doch fast ein Schlaraffenland. Man muss sich nur klar machen, dass das nicht für alle Menschen auf der Welt der Fall ist. Wir sind noch nicht richtig im Gleichgewicht.

Was meinen Sie mit "noch nicht richtig im Gleichgewicht"?
Wägele: Wir brauchen eine gerechtere Verteilung der Arbeit. Das würde für die einen mehr Freizeit und für die anderen endlich gute Arbeit bedeuten. Denn wenn die Menschen statt freiwilligen Überstunden weniger arbeiten würden, wird mehr Personal für die gleiche Leistung gebraucht. Dazu gehört dann natürlich auch, mit der Freizeit etwas Sinnvolles anzustellen. Da sind wir wieder bei dem Punkt, dass die Menschen besser auf sich achten sollten.

Sturma: Ein Großteil der Umweltzerstörungen sind Folgen von Ungerechtigkeiten, auch bei der Verteilung der Arbeit. Die Abholzung des Regenwaldes etwa findet auch statt, weil Menschen teilweise gezwungen sind, bei entsprechenden Firmen zu arbeiten, oder weil sie selbst roden müssen, um auf dem Land ihre Familie zu ernähren. Armut zwingt Menschen noch an viel zu vielen Orten auf der Welt dazu, sich schädigend gegenüber der Natur zu verhalten. Und da muss man fragen: Was fällt uns eigentlich ein, die Olympischen Spiele oder die Fußball-Weltmeisterschaften nach Brasilien, Russland oder Katar zu geben, ohne die soziale Frage zu stellen oder Nachhaltigkeit und Menschenrechte zur Bedingung zu machen?

Wie sähe denn die angesprochene paradiesische Welt aus?
Wägele: Es wäre eine Welt ohne die zuvor genannten Probleme und auch ohne die versteckte Korruption, die es durch Postengeschacher auch bei uns gibt. Vor allem wäre es aber auch eine Welt ohne Migration.

Wie meinen Sie das?
Wägele: Das hat etwas mit Verantwortung für andere Länder zu tun. Wenn wir keine Verantwortung übernehmen, schaden wir uns nur selbst. Wenn wir für unsere Kinder eine gute Welt schaffen wollen, müssen wir über Afrika reden. Dort gibt es soziale Konflikte. Die entstehen durch eine sehr hohe Bevölkerungsdichte, Übernutzung der Landschaft, Nahrungsmittelknappheit und gewaltsame Auseinandersetzungen - und das bekommen wir hier zu spüren.

Sturma: Jeder, der auf der Flucht ist vor Grausamkeit, ist hier hoch willkommen. Aber wir dürfen nicht vergessen: Jeder Mensch, der hierhin flieht, würde es doch vorziehen, in seiner Heimat zu leben, wenn er sich dort seines Lebens und seines Lebensunterhaltes sicher sein könnte, wenn seine Kinder dort zur Schule gehen würden und niemand aufgrund seiner Religion oder seines Geschlechts unterdrückt würde. Dass so viele Menschen aus anderen Ländern zu uns fliehen, hat allerdings nicht nur etwas mit den Missständen in diesen Ländern, sondern auch etwas mit unserer Politik zu tun. Wir tun einfach zu wenig für den Rest der Welt. Da könnte man auch wieder fragen: Sollen mich andere als jemanden betrachten, dem das vermeidbare Leid anderer Menschen prinzipiell egal ist?

Dennoch gibt es sehr viele Menschen, die die Flüchtlinge hier nicht haben wollen...
Wägele: Man kann die Menschen nur gewinnen, wenn man ihnen klar macht, dass sich die subjektiv schlechte Situation hier nur verbessert, man in Entwicklungsprojekte in Schwellenländern investiert - und zwar auf nachhaltige Art und Weise. Außerdem müsste man endlich faire Preise für die Waren bezahlen, die man aus solchen Ländern bezieht - das gilt übrigens auch für deutsche landwirtschaftliche Produkte.

Warum muss Entwicklungshilfe von Deutschland ausgehen?
Wägele: Weil wir die Mittel dafür haben. Denn was wir nicht wollen, ist, dass immer mehr Menschen im Mittelmeer ihr Leben verlieren oder es aufs Spiel setzen. Und wir wollen auch nicht, dass sie hier in Turnhallen und Wartesälen ihr Leben fristen. Aber um das zu ändern, müssen wir das Beschriebene tun.

Der Punkt Bildung ist für Sie nicht nur in Afrika zentral. Warum?
Sturma: Je gebildeter jemand ist, desto nachhaltiger wird er sich verhalten. Wenn in Schwellenländern gerade der Bildungsgrad der Frauen erhöht wird, hat sich gezeigt, dass sich das insgesamt auch positiv auf den Wohlstand eines Landes auswirkt. Die Gleichstellung von Mann und Frau und die Wahrung der Menschenrechte bleiben zentrale Anliegen in der Entwicklungshilfe. Und was Deutschland betrifft: Auch hier muss die Politik ihren Blick auf die Jungen richten. Aber es profitieren derzeit nur wir, die Alten.

Wenn man sich die Welt heute anschaut mit den Präsidenten Trump und Erdogan, Klimawandel, Artensterben, bewaffneten Konflikten und so weiter - haben Sie wirklich Hoffnung, dass sich alles zum Besseren wendet?
Sturma: Ich bin grundsätzlich optimistisch. Wir müssen uns dar-auf einstellen, dass es Leid geben wird. Und es sollte nicht vergessen werden, dass jetzt immer noch 1,5 Milliarden Menschen gibt, die an der Grenze der Auszehrung stehen. Es gibt viel zu tun. Aber was mich optimistisch stimmt, ist, dass das Problembewusstsein sowohl für Umwelt- als auch für Menschenrechtsfragen steigt.

Wägele: Es steht fest, dass noch schwierige Etappen auf uns zukommen werden. Es wird Dürren, Migration und Artensterben geben. Aber wenn ich mir die Fortschritte, zum Beispiel in der Elektromobilität, oder den Rückgang von Bevölkerungszuwachs in Lateinamerika und China anschaue, habe ich Hoffnung. Auch in Südamerika ist zu beobachten, dass Bildung wirkt - daraus erwächst ein Verantwortungsgefühl, sozial und für die Natur.

Was sind Ihre Wünsche für die Zukunft?
Sturma: Nicht alle Dinge so selbstverständlich nehmen und eine durchgreifende Bildung auf allen Ebenen. Bildung ist der Schlüssel, und das heißt Befähigung zur Problemlösung.

Wägele: Wir wollen die Forschung zur biologischen Umwelt in Bonn ausbauen. Die Politik sollte dabei nicht zuerst nur die Kosten diskutieren. Denn das Geld ist gut investiert, es geht um die Welt unserer Kinder.

Zur Person

Wolfgang Wägele (64) ist seit 2004 Leiter des Zoologischen Forschungsmuseums Koe-nig in Bonn und Professor für Zoologie an der Universität Bonn. Er hat Biologie und Chemie studiert und sich der Meeresbiologie und Polarforschung gewidmet. Später folgte die molekulare Erforschung der Stammesgeschichte.

Dieter Sturma (64) ist seit 2007 Professorfür Philosophie unter besonderer Berücksichtigung der Ethik in den Biowissenschaften an der Uni Bonn.Außerdem ist erDirektor des Instituts für Wissenschaft und Ethik. Seine Forschungsschwerpunkte sind dieNatur geistiger oder mentaler Zustände und der Freiheitsbegriff.

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