Familien-Kolumne „Kinderkram“ Über die ungleiche Behandlung von Geschwistern
Bonn · Während das erste Kind unserer Autorin ganz im Zentrum der elterlichen Aufmerksamkeit stand, läuft das jüngere so nebenher. Aber es hat auch Vorteile, die Zweitgeborene zu sein.
Neulich war ich mit unserer jüngeren Tochter beim Arzt, die ältere hatten wir vorher in der Kita abgeliefert. Auf dem Rückweg machten wir einen Stopp auf dem Spielplatz, sammelten ein paar Herbstblätter und unterhielten uns. Sie erzählte mir, dass sie, wenn sie mal „gewachsen“ sei, auch ein Kind haben möchte, dass dieses Lilly heißen soll und dass ich ja dann die Oma sein könnte und wir alle zusammen in Urlaub fahren. In diesem Moment fiel mir auf, wie wenige solcher Gespräche ich bisher mit unserer Dreijährigen geführt hatte, vor allem im Vergleich zu ihrer älteren Schwester.
Wenn wir als Eltern behaupteten, wir hätten unsere beiden Kinder in ihren ersten Lebensjahren auch nur annähernd gleichbehandelt, dann wäre das glatt gelogen. Die Ungleichbehandlung fing schon in der Schwangerschaft an. In der ersten hatten wir einen Ratgeber, in dem wir jede Woche gemeinsam nachlasen, was gerade in meinem Bauch passierte. („Dein Baby ist jetzt so groß wie eine Papaya, auf laute Geräusche und Musik reagiert es mit gesteigertem Puls.“) Wenn mich in der Schwangerschaft mit dem zweiten Kind jemand fragte, in der wievielten Woche ich denn nun sei, musste ich passen, sehr lange rechnen oder schnell den Mutterpass zurate ziehen. Ich hatte keine Ahnung, mit welcher Frucht der Embryo gerade zu vergleichen war und war jedes Mal geschockt, wie wenig Zeit nur noch bis zur Geburt blieb.
Wir haben unserer älteren Tochter in den ersten 18 Lebensmonaten mindestens 547-mal „Gute Nacht, Gorilla“ vorgelesen. Die Jüngere kam vielleicht 10-mal in den Genuss. Bei der Älteren kann ich mich ans erste Wort („Ball“), an den ersten Schritt, an den ersten Brei, ans Abstillen sehr genau erinnern. Das waren einschneidende Erlebnisse in ihrem und unserem Leben. Bei der Jüngeren weiß ich nichts davon mehr.
Die Welt, in die jüngere Geschwister geboren werden, ist eine vollkommen andere als noch beim ersten Kind. Sie wird schon von einem kleinen Erdenbewohner bevölkert, der einen guten Teil der Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist eine Welt, in der die Eltern schon mitten drin sind in den chaotischen Turnübungen, die nötig sind, um Familien-Organisation und Arbeitsleben zu vereinen. Erschwerend kam wohl bei uns hinzu, dass die Jüngere acht Monate vor Beginn der Corona-Pandemie geboren wurde. Außerdem hatten wir als Eltern schon gelernt, gelassen zu sein: Kinder lernen schlafen, jeder Schnupfen geht vorbei und Drei-Tage-Fieber dauert wirklich drei Tage.
Während das erste Kind aufwendig in den Schlaf gewiegt wurde, und wir bei Erfolg wenig später zur Sicherheit doch noch mal nachschauten, ob es noch atmete, konnte es beim zweiten Kind durchaus passieren, dass sie einfach von uns allen unbemerkt auf dem Spielteppich einschlief. Die These von Psychologen, dass die Reihenfolge, in der Geschwister auf die Welt kommen, die Persönlichkeit forme, kann einen da kaum verwundern. Wobei unsere Jüngere von Anfang das geborene Geschwisterkind war, ich würde behaupten auch ohne unser Zutun: sehr genügsam und meistens fröhlich. Ich will auch gar nicht bewerten, ob mehr oder weniger exklusive Zeit und Aufmerksamkeit seitens der Eltern besser für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes ist. Ein gesundes Mittelmaß wäre vermutlich ideal.
Am Abend nach unserem Ausflug kam die Dreijährige zu mir, zählte plötzlich fehlerfrei bis 20 und führte mir wenig später vor, wie man Socken faltet. Auf die Frage, wo sie das denn alles gelernt habe, antwortete sie stolz: von der Schwester. Sie hat eine große Schwester, die sich schützend vor sie stellt – in der Kita oder wenn die Eltern mal zu streng sind, die stundenlang mit ihr spielt und von der sie lernen kann. Und das ist wohl wiederum das ganz große Privileg, das die Zweitgeborene der Erstgeborenen voraushat.