Familien-Kolumne zu Meilensteinen Wenn Eltern ihre Kinder vergleichen

Als Eltern fiebern wir jedem neuen Entwicklungsschritt unseres Nachwuchses entgegen – und ertragen es nur schwer, wenn’s mal langsamer vorangeht als bei anderen Kindern. Dabei wissen wir es doch eigentlich besser.

Manche Meilensteine der kindlichen Entwicklung werden gefeiert wie ein Sieg bei Olympia.

Manche Meilensteine der kindlichen Entwicklung werden gefeiert wie ein Sieg bei Olympia.

Foto: Hana - stock.adobe.com/Hana Nemeckova

Gerade beim ersten Kind fiebern viele Eltern jedem neuen Entwicklungsschritt entgegen. Dreht das Baby sich das erste Mal vom Rücken auf den Bauch, ist der Jubel groß und der erste Schritt wird gerne wie ein Olympiasieg gefeiert. Das war bei uns nicht anders. In Babykursen und Kitas, auf dem Spielplatz und im Eltern-Kind-Café gibt es außerdem jede Menge Gelegenheit, das Gedeihen der eigenen Brut mit anderen gleichaltrigen Kindern zu vergleichen. Wenn Paul dann schon Dreiwortsätze kann oder Maya vier Schritte freihändig laufen, wird das auch mal neidvoll beäugt.

Durch Messenger-Apps und Social Media beschränkt sich der Radius potenzieller Vergleichsmaße nicht nur auf Kita, Nachbarschaft und Spielplatz, sondern schließt auch die Cousine in Amerika und die pastellfarbene Welt der Familien-Influencerinnen mit ein. Wie in anderen Lebensbereichen gilt auch bei den eigenen Kindern: Immer schön mit der Spitze in jedem einzelnen Bereich vergleichen, um aus den Sorgen und der Unzufriedenheit wirklich das Maximale herauszuholen. Dass Paul zwar schon spricht, aber noch nicht läuft, wird natürlich außer Acht gelassen.

Dabei weiß ich es doch eigentlich besser. Jedes Kind ist anders. Die Varianz in der sprachlichen und motorischen Entwicklung ist gerade in den ersten Lebensjahren enorm. Außerdem ist bekannt, dass es herzlich wenig über den späteren schulischen oder beruflichen Erfolg aussagt, ob ein Säugling mit fünf oder acht Monaten zu krabbeln begonnen hat oder über seine kognitive oder emotionale Intelligenz, ob ein Kind mit acht oder 28 Monaten sagt „Papa spielen“.

Natürlich wird sich dieses Wissen in den Babykursen und auf Spielplatzbänken auch immer gegenseitig versichert. Allerdings kennen wohl die meisten Eltern das Phänomen, dass etwas zu wissen und zu verstehen nicht zwangsläufig heißt, es auch zu verinnerlichen und zu fühlen.

Dabei ist Leistung und Erfolg noch nicht einmal etwas, dem ich für meine Kinder besonders viel Gewicht beimessen möchte. Sie sollen unbeschwert sein und sich geborgen fühlen. Für später wünsche ich ihnen soziale Eingebundenheit, Lebenszufriedenheit, vielleicht noch Resilienz. Selten habe ich aber in Familien-Chat-Gruppen zum Beispiel gelesen: „Wir sind so stolz, heute hat Maya das erste Mal auf dem Spielplatz freiwillig ihre Schaufel geteilt.“ Oder: „Das mit dem Verlieren, das macht Karl wirklich gut.“

Die Kinder werden älter, die Meilensteine ändern sich. Unsere größere Tochter beispielsweise kann inzwischen lesen. Wir haben das Lesenlernen nicht forciert, aber unterstützt, wenn sie Fragen hatte oder um Hilfe gebeten hat. Und natürlich bin ich gegen meinen erklärten Willen auch ein bisschen stolz, wenn die Sechsjährige den staunenden Großeltern plötzlich flüssig ganze Sätze vorliest.

Doch die Kehrseite der neu gewonnenen Fertigkeit offenbarte sich prompt, und zwar in Form einer Wochenzeitung, die morgens im Flur lag. Darauf abgebildet war das berühmt gewordene Porträtfoto von Maddie, das kleine britische Mädchen, das 2007 in Portugal spurlos verschwand. Darunter stand: „Eine junge Polin hält sich für die verschwundene Madeleine McCann.“ Das las unser Kind und hatte danach auf dem gesamten Weg bis zur Kita berechtigte Fragen: Mama, was heißt das: verschwunden? Mama, was glaubst du, was Maddie passiert ist? Mama, was glaubst du, wo Maddie jetzt ist? Mama, aber hast du nicht immer gesagt, dass keiner einfach in unsere Wohnung rein kann?

Ich versuchte, die Fragen ehrlich und kindgerecht zu beantworten, wie es im Erziehungsratgeber steht. Aber was heißt im Fall eines vermutlich entführten, womöglich missbrauchten, vermutlich getöteten knapp vierjährigen Mädchens schon kindgerecht? Für 7.45 Uhr morgens ohne zweiten Kaffee habe ich mein Bestes gegeben, habe versucht zu erklären, dass es sich um einen absoluten Einzelfall handelt.

Nur einmal war ich versucht, schräg abzubiegen und einfach zu fabulieren, Maddie könne ja auch abgehauen sein und sich einer Straßenkinderbande à la „Herr der Diebe“ angeschlossen haben. Bei mir habe ich während der gesamten zwanzigminütigen Unterhaltung gedacht: Warum zur Hölle bringen wir Kindern überhaupt das Lesen bei, bevor sie nicht mindestens 14 Jahre alt sind?

Denn was beim Hype um den nächsten Entwicklungsschritt gerne vergessen wird, sind die Nebenwirkungen, die jedem Meilenstein auf dem Fuße folgen. Jeder Entwicklungsschritt erweitert auch den Radius des Kindes. Kann es erstmal krabbeln, ist’s vorbei mit dem angenehmen Elternleben. Jetzt geht der nimmermüde Wettlauf darum los, wer zuerst bei potenziellen Gefahrenquellen ankommt. Wer laufen kann, der fällt. Wer Fahrradfahren kann, ist schnell über alle Berge. Dann ist es plötzlich Ben, der neidvoll beäugt wird, weil er sich mit allem Zeit lässt und einfach das gechillteste Baby der Welt ist.

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