Total am Ende Was die Pandemie für Menschen mit Behinderung bedeutet

Karlsruhe · Die Coronapandemie hat viele Menschen an ihre Grenzen gebracht. Aber was ist mit denen, die sowieso immer am Limit sind? Familien mit behinderten Kindern etwa hat kaum jemand auf dem Radar.

 Petra Nicklas, die Vorsitzende des Vereins „Gemeinsam“, zusammen mit ihrer schwerstbehinderten Tochter Elisa. Der Verein „Gemeinsam“ setzt sich für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen ein. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Petra Nicklas, die Vorsitzende des Vereins „Gemeinsam“, zusammen mit ihrer schwerstbehinderten Tochter Elisa. Der Verein „Gemeinsam“ setzt sich für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen ein. Foto: Bernd Weißbrod/dpa

Foto: Bernd Weissbrod

Es hat sie hart getroffen. Nicht nur die ständige
Angst, dass ihre schwerst mehrfachbehinderte Tochter sich mit Corona
infizieren könnte, treibt die Mutter der 28 Jahre alten Elisa um. Ein
völlig aus den Fugen geratener Alltag wegen über Monate geschlossener
Werkstatt und vieler ausgefallener Therapien hat sie und ihre Familie
in den vergangenen Monaten zur Verzweiflung und an den Rand der
völligen Erschöpfung gebracht. „Wir durften mit Elisa nicht mehr zum
Reiten, ihr fehlte jegliche Struktur, sie war irgendwann nicht mehr
ausgeglichen und stellte den Tag-Nacht-Rhythmus auf den Kopf“,
erzählt Petra Nicklas. „Irgendwann gingen wir komplett am Stock.“

Nicklas, die auch Vorsitzende des Ludwigsburger Vereins „Gemeinsam
für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung“ ist, berichtet von
vielen Eltern, die sich wegen der ausgefallenen Therapien noch mehr
um ihre Kinder sorgen und in Isolation versinken. „Dass
Autoaggressionen zugenommen haben oder Kinder wieder hospitalisieren
- das habe ich überall gehört“, erzählt sie. Vieles - etwa die
Rumpfkontrolle oder der Mundschluss - bedürfe regelmäßiger Übung mit
Therapeuten.

In Pandemiezeiten sei dies phasenweise überhaupt nicht möglich und
die motorischen aber auch geistigen Rückschritte der Betroffenen
seien entsprechend. „Wenn die erworbene Fähigkeit einmal weg ist,
dann braucht man ewig, sich das wieder draufzuschaffen“, sagt
Nicklas. Von Eltern, die mit ihren behinderten Kindern über Wochen
alleingelassen waren, bekomme sie inzwischen gespiegelt, „ich kriege
das nicht mehr geregelt“.

Die Sorgen dieser Familien, die sich um ihre Kinder mit Behinderung
kümmern oder sie an den Wochenenden betreuen, auch wenn sie erwachsen
sind, haben auch während Corona nur wenige auf dem Schirm. „Wir haben
am Anfang der Pandemie versucht, darauf aufmerksam zu machen“, sagte
Lotte Habermann-Horstmeier, Neurophysiologin und Leiterin des
Villingen-Institute of Public Health. „Das Echo war eher bescheiden.“

Auch Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des
baden-württembergischen Landesverbandes für Menschen mit Körper- und
Mehrfachbehinderung (LVKM-BW), beklagt das. „Aus Gesprächen mit
Familien, die hier anrufen und nachfragen, höre ich große Sorge“,
erzählt sie. Ähnlich wie alte Menschen seien auch Menschen mit
Behinderung viel vulnerabler in Bezug auf das Virus und viel
angewiesener auf Betreuung als ein sogenannter Gesunder. „Manche
gehen aus Sorge vor Ansteckung nicht nach draußen, geschweige denn
zur Therapie. Bei anderen werden die Therapien abgesagt und die oft
einzige Kontaktmöglichkeit nach draußen entfällt.“ Die Folge sind
Einsamkeit und Isolation der Familien und der behinderten Menschen
insgesamt. „Sie sind unsichtbar“, sagte Habermann-Horstmeier.

„Je stärker die Behinderung, desto stärker die Auswirkungen der
Coronaeinschränkung auf die Betroffenen“, hat Thorsten Langer,
Mitbetreuer einer Studie am Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der
Uniklinik Freiburg, festgestellt. Dafür waren im Herbst 2020 in
Zusammenarbeit mit dem Kindernetzwerk, dem Dachverband der
Patientenvertretung im Kinder- und Jugendbereich, deutschlandweit
mehr als 1600 Eltern gesunder und nicht gesunder Kinder befragt
worden.

Darin ging es auch um den Zugang zur medizinischen Versorgung: „Ganz
viel war weggefallen“, berichtet Langer. Eltern seien teilweise
selber zur Physiotherapie gegangen, um sich dort Übungen für ihre
Kinder zuhause zeigen zu lassen. Während der ersten Welle seien viele
Angebote zur Frühförderung schlicht geschlossen und die
Pflegedienstversorgung eingeschränkt gewesen. „Wir sahen eine
deutliche Kurve nach oben in der Belastung von gesunden hin zu
chronisch kranken und von dort zu komplex chronisch kranken Kindern“,
resümiert er.

Außerdem sei der psychische Stress der Eltern mit behinderten oder
chronisch kranken Kindern viel höher, etwa wenn die (Förder-)Schulen
geschlossen werden. „Denn für diese Familien ist Schule sehr viel
mehr als nur ein Bildungsinstrument: Sie bedeutet dringend notwendige
Entlastung für den Alltag.“

Annette Mund, Vorsitzende des Kindernetzwerkes, betont: „Was für
gesunde Kinder und Jugendliche gilt, insbesondere was die psychische
Belastung angeht, gilt umso mehr für beeinträchtigte Kinder und
Jugendliche.“ Insgesamt wisse man: „Je jünger das Kind, desto
ungünstiger ist dies für die gesamte Entwicklung, wenn Therapie- und
Fördermaßnahmen ausfallen.“ Die Langfristfolgen seien noch gar nicht
abzuschätzen.

„Elisa hat der Wegfall von Außenkontakten viel genommen“, sagt
Nicklas. „Es hat ihre Welt deutlich ärmer gemacht und dazu geführt,
dass ihre Bewegungsunruhe deutlich gesteigert wurde, Krampfanfälle
öfter auftraten, das körperliche Wohlbefinden deutlich abgenommen
hat.“ Aus ihrer Sicht hat die Pandemie die Situation von Menschen,
die vollkommen auf Unterstützung angewiesen sind, deutlich
verschlechtert und die Schwachstellen der Gesellschaft offengelegt.

„Die Pandemie trifft in keiner Weise alle gleich. Sondern sie trifft
kranke Kinder beziehungsweise Familien mit kranken oder behinderten
Kindern ganz besonders“, sagt auch Langer und blickt mit Sorge auf
die schlechte Datenlage dazu. Die Menschen seien wegen ihrer
Belastung oft nicht in der Lage Gesundheits- und Lobbypolitik zu
machen. „Es gibt zu wenige Studien für diese Familien und zu wenig
Gelder dafür.“

© dpa-infocom, dpa:210503-99-445760/3

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