Adipositas-Hilfe in Bonn Neustart für den Darm

BONN · In Europa sind fast zwei von drei Erwachsenen und jedes dritte Kind übergewichtig. Bonner Experten suchen nach neuen Therapien gegen Adipositas. Sie forschen an braunem Fett, an molekularen Transportern und an der Darmflora

   Übergewichtsfördernd wirkt auch,   dass wir es in den Wintermonaten immer gemütlich warm haben (oder bislang hatten):   Unsere körpereigenen Fettverbrennungsöfen sind verkümmert  X

Übergewichtsfördernd wirkt auch, dass wir es in den Wintermonaten immer gemütlich warm haben (oder bislang hatten): Unsere körpereigenen Fettverbrennungsöfen sind verkümmert X

Foto: picture-alliance/ dpa/dpaweb/Rolf Vennenbernd

Falls Zahlen ein Problem verdeutlichen können, dann diese: Weltweit sind etwa zwei Milliarden Menschen von starkem Übergewicht und Fettleibigkeit (Adipositas) betroffen. Der jüngste Bericht des Regionalbüros für Europa der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wirkt alarmierend: Demnach leben auf unserem Kontinent inzwischen knapp 60 Prozent der Erwachsenen und fast jedes dritte Kind (29 Prozent der Jungen, 27 Prozent der Mädchen) mit Übergewicht oder Adipositas. Die WHO spricht von „epidemischem Ausmaß“. Und mit der Zahl der stark übergewichtigen Patienten nehmen auch Diabetes, Stoffwechsel- und die gefährlichen Herz-Kreislauf-Erkrankungen bis hin zu Schlaganfall und Herzinfarkt zu.

Suche nach Therapiemöglichkeiten

Es besteht also jede Menge Handlungsbedarf. Diese Herausforderung nehmen Wissenschaftler der Universität und des Uniklinikums Bonn (UKB) an und betreiben Adipositasforschung auf Weltklasseniveau. „Wir beleuchten die Fettleibigkeit auf verschiedenen Ebenen und hoffen, dass sich daraus viele Puzzlestücke ergeben, die zusammen zu neuen Therapiemöglichkeiten führen“, sagt Professor Alexander Pfeifer.

Qua Amt und Forschungsschwerpunkt ist der Direktor des Instituts für Pharmakologie und Toxikologie der Uni Bonn immer auf der Suche nach Ansätzen für neue Medikamente, die den Energiehaushalt von Menschen mit Adipositas ins Gleichgewicht bringen. Denn für ihn spielt die Schieflage zwischen Energiezufuhr und -abgabe die entscheidende Rolle. „Ich muss gar nicht mehr essen, um zuzunehmen, wenn mein Körper gleichzeitig, ohne dass ich es beeinflussen kann, zu wenig Energie abgibt“, sagt er. Ohne Zweifel würde eine halbe Stunde Sport am Tag dabei helfen, einige der unerwünschten Kilos zu verlieren und das Gewicht dann auch zu halten. „Aber wer hat schon so viel Zeit und Motivation, um das immer durchzuziehen?“

Erschwerend hinzu kommt der berüchtigte Jojo-Effekt: Wer die Ernährung verändert und ein paar Kalorien spart, der nimmt erstmal ab. Aber dann schaltet der Körper auf den Hunger-Modus um, gibt weniger Energie ab – und das Gewicht geht wieder hoch. Ein Programm gegen überflüssige Pfunde fehlt – und genau dies würde Pfeifer gerne finden und dann auch ankurbeln.

Weißes Fett in den allgemein bekannten Polstern

Dabei helfen soll das braune Fett, das aktiv Kalorien verbrennt, Energie in Wärme umsetzt (Thermogenese), um vor Kälte zu schützen und so als eine Art Körperheizung fungiert. Damit ist es eine Art Gegenpol des weißen Fetts, das als Energiespeicher dient und sich vorzugsweise in den allgemein bekannten Polstern an Bauch, Gesäß und Oberschenkeln befindet.

Eines der Probleme dabei: Das braune Fett ist dem weißen an Masse weit unterlegen. Nur ein paar Gramm sind im menschlichen Körper zu finden. Eine andere Hürde: „Heutzutage haben wir es selbst im Winter muckelig warm, zumindest war es bisher so. Unsere körpereigenen Verbrennungsöfen werden kaum noch gebraucht“, so Pfeifer. Also müssen die braunen Fettzellen umso kräftiger stimuliert werden, auch weil diese speziellen Fettzellen – schöner Nebeneffekt – zusätzlich vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen schützen. Pfeifer und sein Team haben jüngst ein neues, körpereigenes Molekül identifiziert, das die Fettverbrennung in den braunen Zellen anfacht (beteiligt waren auch Forschende der Uni Leipzig und des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf).

Braune Fettzellen aus Mäusen untersucht

Aus anderen Studien wussten die Forscher, dass sterbende Zellen oft einen Mix aus Botenstoffen ausschütten, die das Verhalten ihrer Nachbarn beeinflussen. Sie wollten herausfinden, ob das bei braunen Fettzellen genauso ist. Die Wissenschaftler untersuchten deswegen braune Fettzellen aus Mäusen, die sie gestresst hatten, sodass die Zellen quasi auf dem Weg in den Tod waren. Dabei haben sie festgestellt, dass sie in großen Mengen ein Molekül namens Inosin ausschütten. Noch interessanter war jedoch, wie benachbarte intakte braune Fettzellen auf diesen molekularen Hilferuf reagierten: Sie wurden durch das Inosin aktiviert. Der Signalstoff fachte also den Verbrennungsofen in ihnen an. Weiße Fettzellen wandelten sich zudem in ihre beliebteren „braunen Geschwister“ um. Mäuse, denen das Laborteam sehr energiereiche Nahrung gab und gleichzeitig Inosin injizierte, blieben auch schlanker als ihre Artgenossen und waren vor Diabetes geschützt.

Eine wichtige, hemmende Rolle scheint dabei der sogenannte  Inosin-Transporter zu spielen. Dieses Protein in der Zellmembran befördert Inosin in die Zelle hinein und senkt so die Konzentration des Botenstoffs auf deren Außenseite, wodurch das Inosin-Signal abgeschaltet wird. Eine Möglichkeit, diesen ungewünschten Prozess zu schwächen, sieht Pfeifer in dem Einsatz eines Arzneistoffs, der ursprünglich gegen Gerinnungsstörungen entwickelt wurde, aber auch den Inosin-Transporter hemmt. „Wir haben ihn Mäusen verabreicht, die daraufhin mehr Energie verbrauchten“, so der Professor für Pharmakologie und Toxikologie.

Zwei bis vier Prozent der Menschen betroffen

Hoffnungen, dass sich diese Ergebnisse auch auf den Menschen, der ebenfalls über einen Inosin-Transporter verfügt, übertragen lassen, machen ihm die Daten von den Leipziger Kooperationspartnern. Die haben 900 Personen genetisch analysiert. „Und diejenigen mit einem weniger aktiven Transporter waren im Schnitt deutlich schlanker. Diese genetische Veränderung betrifft etwa zwei bis vier Prozent aller Menschen“, so Pfeifer. Er erwartet, dass Medikamente, die die Aktivität des Transportes drosseln, künftig ein Baustein in der Behandlung gegen Fettleibigkeit sein können.

Einen anderen, sehr vielversprechenden Ansatz verfolgt ein Team um die ausgewiesene Adipositas-Expertin Professorin Wiebke Fenske. Die Leiterin der Endokrinologie (Hormonlehre), Diabetologie und Stoffwechselmedizin am UKB untersucht, welche Rolle das Darmmikrobiom bei der Entstehung und auch Behandlung von Übergewicht und Diabetes Typ 2 spielen könnte. Das Mikrobiom, also die Gesamtheit aller Mikroorganismen im menschlichen Darm, hat einen starken Einfluss auf unser Essverhalten, Körpergewicht und Stoffwechsel. Es ist zu verstehen als eine Art Schnittstelle zwischen der Umwelt und unserem Körper. Die Art, Anzahl und Zusammensetzung dieser Bakterien unterscheidet sich deutlich zwischen schlanken und übergewichtigen Menschen. Derzeit geht die Wissenschaft davon aus, dass eine gestörte Darmflora (Dysbiose) maßgeblich für die Entstehung und auch „biologische Resilienz“ von Übergewicht verantwortlich ist. Die Folgerung daraus: Es muss wieder eine funktionell gesunde Darmflora her, damit eine langfristige Reduktion des Übergewichts und Prävention von gewichtsbegleitenden, zusätzlichen Erkrankungen gelingen kann.

Körpereigene Signalvereinbarung

Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass eine Magenbypass-Operation bei adipösen Patienten das Ungleichgewicht der Darmflora auf vielfältige Weise beeinflusst. Doch welche funktionelle Bedeutung dieser mikrobielle „Reset“ auf den Organismus und den Langzeiterfolg der operativen Therapie hat, ist bislang unklar. Bei dieser sogenannten bariatrischen Operation wird nicht nur der Magen verkleinert, sondern auch der vordere Abschnitt des Dünndarms von der Nahrungspassage ausgeschaltet. So wird unter anderem nur noch ein Teil der Nahrung aufgenommen und verdaut. „Insbesondere aber verändert sich die Nährstoffwahrnehmung des Körpers und die körpereigene Signalverarbeitung der Energieträger“, sagt Fenske, gibt jedoch zu bedenken: „Dieser große chirurgische Eingriff ist unumkehrbar, mit einem gewissen Operationsrisiko verbunden und deswegen nur als allerletzte therapeutische Möglichkeit für eine kleine Minderheit von hilfebedürftigen Patienten zugelassen.“

Die Neuroendokrinologin und ihr Team fanden nun heraus, dass die positiven Effekte der Operation hinsichtlich Gewichtsreduktion und Diabetes-Milderung maßgeblich durch spezifische Veränderungen des Mikrobioms im Darm und daraus resultierender Aktivierung des Stoffwechsels verursacht werden. Entscheidend dabei: Der Therapieeffekt ist auch ohne den großen operativen Eingriff möglich – nämlich durch die nicht-invasive Transplantation von fäkalem Mikrobiom. „Das ist für uns ein Meilenstein in der Adipositas-Forschung“, so Fenske.

Abtötung der Darmbakterien

Erfolg durch Stuhltransplantation: Was für manche vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig klingt, ist das Ergebnis von sieben Jahren akribischer Forschungsarbeit: Zunächst analysierten die Wissenschaftler im Tierversuch, wie sich die Dezimierung der Darmbakterien durch Antibiotika nach einer bariatrischen OP auf den Organismus auswirkt. Die Abtötung der Darmbakterien machte die positiven Effekte des Eingriffs auf Übergewicht und verbesserte Stoffwechselfunktion nahezu komplett zunichte. „Dies deutete darauf hin, dass das Darmmikrobiom die postoperativen Veränderungen des Stoffwechsels und auch die Regulierung des Gewichts entscheidend steuert“, erklärt Fenske, die gerade ein neues Adipositas- und Stoffwechselforschungszentrum am UKB installiert hat (siehe Kasten). 

Im nächsten Schritt transplantierten die Wissenschaftler das Darmmikrobiom vor und nach der bariatrischen OP in adipöse, nicht-operierte Mäuse. Der Transfer und das schnelle Einnisten der gesunden Darmbakterien nach einem Magenbypass führten zu einer deutlichen Verbesserung des Glukosestoffwechsels und der Verringerung des Übergewichts der fettleibigen Empfängertiere. Ähnlich wie nach der Operation waren diese Effekte eng gekoppelt an einen gesteigerten Energieverbrauch der braunen Fettzellen (da sind sie wieder, die lustigen Biester), die überschüssige Fettreserven durch Wärmeproduktion abbauen.

Verändertes Mikrobiom

Auch hier begaben sich die Wissenschaftler auf die Suche nach dem entscheidenden Signalweg — diesmal dem zwischen Darmmikrobiom und Fettgewebe, der infolge des veränderten Darmmilieus nach bariatrischer OP in Gang gesetzt wird. Dabei scheint die Aktivierung zweier Signalmoleküle, der sogenannten Gallensäure-Rezeptoren TGR5 und FXR, im Darm und braunen Fettgewebe eine wichtige Rolle zu spielen. Das veränderte Mikrobiom bewirkt, dass diese molekularen Antennen (also TGR5 und FXR) auf biochemische Signalstoffe der Darmbakterien reagieren und ihrerseits ein Signal an die Zellen im Verdauungstrakt weitergeben. Dies wiederum kurbelt über eine Art biochemischen Kurzschluss die Fettverbrennung an und verbessert infolge die Fett- und Kohlenhydratverwertung des Körpers. Experten nennen so etwas „einen relativ einfachen molekularen Regelkreis“.

Ob die Stuhltransplantation auch beim Menschen zum „Neustart für den Darm“ führt und so den Weg für neue mikrobielle Therapieansätze gegen Adipositas und Begleiterkrankungen ebnet, untersuchen die Bonner Forscher gerade mit Kollegen der Uni Graz. „Wir sind sehr gespannt und optimistisch“, sagt Fenske zu ihrem neuen Projekt.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort